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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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sie postlagernd nach Madrid geschickt, die kann sie abholen, sobald sie eine Pension gefunden hat. Jetzt ist sie frei, der Zug jagt irgendwo zwischen Orléans und Bordeaux mit dem hohen Geräusch dahin, das dazugehört und das den Rhythmus ihrer Gedanken markiert, ich bin frei, ich bin frei. Aber warum denkt sie dann trotzdem an diesen Mann? Du verläßt ein Bett, weil es zu schmal ist, weil du aus einer bewußtlosen Umarmung erwacht bist, die mit jedem Herzschlag ein beengenderes Gefängnis wird. Du siehst das fremde Gesicht aus zu großer Nähe und weißt, daß du diese Nähe nicht willst, daß du sie, selbst wenn du dich nach ihr sehntest, doch nicht willst. Du hast deinen eigenen Kodex verletzt, den man dir einmal eingebrannt hat, mit Feuer besiegelt, den Entschluß, der gefaßt worden war, bevor du Entschlüsse fassen konntest. Wenn dies die Geschichte eines anderen wäre, würde ich mich totlachen, denkt sie. Aber es ist meine eigene Geschichte, und ich entscheide, wie sie endet. Ich wollte mich nie hingeben, und ich habe mich hingegeben. Es hätte nie passieren dürfen. Sie merkt, daß sie sich die Fingernägel tief ins Fleisch gräbt. Das Buch unter ihrem Kopfkissen, das einzige, das sie mitgenommen hat, kann sie sehen, ohne es zu sehen. Den gräulichen Umschlag, die Zitadelle von Zamora, die Jahreszahlen, den Namen dieser Frau, der gleichzeitig der Name eines Vogels ist, zwei Silben in ihrer eigenen Sprache, ein Name, der kleppert, als schlüge man zwei große Kieselsteine gegeneinander. Sie ist wieder allein, sie ist frei. Man hat ihr etwas herausgeschnitten. Und wir? Der nächtliche Klavierspieler, der Philosoph, der einen kurzen Abschiedsbrief von Elik Oranje liest, in dem nichts steht, was er nicht begreift, obwohl er weiß, daß noch etwas anderes darin steht, erste Abenddämmerung um den Myōshinji, am Ende seiner Reise, die Perlenkette gedämpfter Lichter, die sich durch die verlassene Landschaft der Dordogne bewegt, nichts können wir auch nur für einen Augenblick loslassen, auch nicht diese Frau, allein in ihrem Zimmer, die auf ein Foto auf einem Lesepult blickt und eine Wolke sieht, die vor siebzig Jahren den Himmel über dem Strand von Helgoland entlangzog. Ein Brief, in dem nicht steht, was doch darin steht, was für ein Unsinn ist das? Aber wenn es Unsinn ist, warum merkt er es dann? Wir urteilen nicht, das kann es nicht sein. Trauer vielleicht, wenn etwas für den einen wenig bedeutet und für den anderen zuviel. Wir werden sehen. Daß wir folgen und registrieren müssen, bedeutet nicht, daß wir alles sagen müssen. Zum Glück nicht. Einst waren die Schicksale von Königinnen und Helden der Gegenstand von Mythen, von Trauerspielen. Es gab einen Ödipus für die Strafe, eine Medea für die Rache, eine Antigone für den Widerstand. Ihr seid keine Könige mehr, keine Königstöchter. Eure Geschichten sind alle bedeutungslos, außer für euch selbst. Einzelne Folgen, faits divers, soap. Aus eurem Kummer wird nie mehr eine Münze in Worten geschlagen werden, die für andere gültig ist, für die begrenzte Ewigkeit, über die ihr verfügt. Das macht euch flüchtiger und, wenn ihr uns fragt, tragischer. Ihr habt kein Echo. Ohne Publikum, ja, das kann man auch sagen, obgleich wir das nicht meinen. Dies war übrigens das letzte Mal, daß ihr uns gehört habt. Abgesehen von den letzten vier Worten.
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    * *

»Als du wegfuhrst, warst du schon weg«, sagte Arno Tieck, »und jetzt, wo du wieder da bist, bist du noch nicht wieder da. Erzähl, erzähl.«
    »Es ist noch zu früh«, sagte Arthur. »Mir geht noch zuviel im Kopf herum. Hier.« Er gab ihm die CD, die er in Kioto gekauft hatte. »Männer im Tausch gegen Frauen, wie du wolltest.«
    Nein, jetzt könnte er nichts erzählen. Er war wieder, wie vor zwei Monaten, mit dem kleinen Flugzeug über Berlin geflogen, und wieder hatte er den Falkplatz gesucht, aber jedesmal, wenn er glaubte, das gewölbte Dach der Sporthalle erkannt zu haben, waren eilende Wolken zwischen ihm und der Welt unten aufgetaucht. »Wann kann ich etwas sehen?«
    »Gar nicht, vorläufig. Die Rollen sind in Brüssel geblieben, und was ich für mich selbst gedreht habe, habe ich nach Amsterdam geschickt. Ich muß hier für eine Weile raus.«
    »Oh.« Arno klang enttäuscht. »Aber was hast du denn gefilmt?«
    »Stille.« Und dann: »Regungslosigkeit. Stufen zu Tempeln. Füße auf diesen Stufen. Immer das gleiche.«
    Arno nickte und wartete.
    »Die gleichen Dinge wie für den offiziellen

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