Allerseelen
wahrscheinlich, weil sie wissen, daß wir im Anmarsch sind. In derselben Zeit sind wir in den entferntesten Winkel des Alls verbannt worden und dabei auch immer noch kleiner geworden. Aber zum Trost haben wir die Musik bekommen, die zerrissene, die zerreißende, und die harmonische. Hast du so einen tragbaren CD-Player, den man auch im Flugzeug benutzen kann?«
Den hatte Arthur.
»Dann hör dir meinen Frauenchor an, wenn du dich in zehntausend Meter Höhe befindest. Dort bist du dem am nächsten, was sie für den Ursprung dieser Musik hielten. Hier.«
Arthur nahm die Kassette entgegen. Das Cover war eine Miniatur aus dem Codex Latinus , las er, eine junge, dunkelhaarige Frau in mittelalterlichem Gewand, die wie Moses zwei steinerne Tafeln in die Höhe hielt, nur stand auf diesen hier nichts geschrieben. Voice of the blood . Der Titel gefiel ihm nicht. Er sagte es.
»Gehört zu dieser Zeit. Ursula war eine Märtyrerin, daher das Blut. Eine der großen Legenden aus dem Mittelalter. Sie war die Inspiration für diese Musik. Das ewige Problem: Wie muß man sich eine Zeit vorstellen, die man sich eigentlich nicht vorstellen kann? Das gleiche Gehirn, andere Software. Diese Musik hier drückt das perfekt aus, sie entspringt einem Gefühl, das aus der Welt verschwunden ist. Darum ist Hildegard von Bingen, genau wie gregorianische Gesänge, auch in Mode, aus Heimweh! Was diese Musik inspiriert hat, existiert nicht mehr, doch die Musik selbst gibt es noch. Das sind die Rätsel, die deine Freundin auch zu lösen hat. Es ist genau dieselbe Zeit. Für Hildegard von Bingen war der Tod Ursulas und ihrer elftausend Jungfrauen eine Wirklichkeit, die sie so bewegte, daß sie dies hier schrieb. In der Accademia in Venedig kannst du die Bilder sehen, die Carpaccio über die Ursula-Legende gemalt hat. Aber dann befinden wir uns bereits in der Renaissance. Stil, Äußerlichkeit. Glänzend, aber ohne die Frömmigkeit. Es dauert nicht mehr lange, dann werden die ersten Linsen geschliffen. Deine Landsleute, sofern du Spinoza als Holländer bezeichnen willst. Das Sägen am großen Thron hat begonnen. Hast du dich schon verabschiedet?«
Arthur begriff, daß Arno von Elik sprach.
»So kann man es nicht nennen. Sie weiß nicht mal, daß ich heute wegfahre.«
Arno sagte nichts.
»Vielleicht kannst du es ihr sagen? Mir wurde keine Gelegenheit dazu gegeben.«
»Wenn sie sich noch mal blicken läßt. Ihre Zeit hier dauert, glaube ich, auch nicht mehr so lange. Das wird mir leid tun, sie ist mir ein bißchen ans Herz gewachsen. Sie ist so, so …«
»So?«
»Anders. Anders als die meisten jungen Leute, denen ich begegne. In ihr brennt ein Feuer, das von Zeit zu Zeit nach außen schlägt. Manchmal ist sie ganz kühl und rational, dann kann man richtig gut mit ihr reden, und manchmal verstehe ich nicht, daß sie überhaupt kommt, dann steht sie sich selbst im Weg. Und sie ist so störrisch wie ein Esel. Ich merke, daß sie über manche Dinge nachdenkt, die ich sage, aber sie kommt immer als erstes mit einem Nein. Niemand braucht auf mich zu hören, und ich selbst betrachte Mißtrauen als eine der großen Antriebskräfte des Denkens, aber sie hat eine Kunstform daraus gemacht. Alles, was sie als spekulativ betrachtet, ist suspekt. Das sind alles nur Hirngespinste von Männern, sagt sie dann immer.« Er lachte.
»Warum lachst du?« fragte Arthur.
»Neulich sagte ich zu ihr, daß Frauen die Männer dieses ausgehenden Jahrtausends sind. Aber auch davon wollte sie nichts wissen. Lieber nicht, sagte sie, ich hoffe nicht, daß du das als Kompliment meinst. Laß mich nur machen. Ich habe mein Gebiet gefunden, daran halte ich mich, das ist meine Nische, da werde ich jeden Stein umdrehen, und wenn es mich Jahre kostet.«
»Und was hast du daraufhin gesagt?«
»Daß man, wenn man alles verwirft, was transzendent ist, Probleme bekommt, wenn man über das Mittelalter schreiben will … na ja, das wird sie schon selber merken. Nur …«
»Nur was?«
»Ich mache mir manchmal Sorgen. Unter diesem Panzer ist sie, glaube ich, sehr verletzlich. Manchmal erinnert sie mich an Zenobia … Ja, nicht die Zenobia, die du jetzt kennst, sondern die von früher, vor vierzig Jahren. Du wirst es nicht glauben, aber damals war sie eine Dämonin, man hätte meinen können, sie wollte in alle Richtungen gleichzeitig. Jetzt ist sie … jetzt hat sie … eine Art Gleichgewicht gefunden.«
Arthur erhob sich.
»Ich muß sie noch anrufen.«
»Das kannst du hier
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