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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Film, nur langsamer. Und länger.«
    Doch das hörte sich noch so an, als habe er sich dabei bewegt, und so war es nicht. Bei einigen dieser kleinen Tempel hatte er völlig bewegungslos dagesessen, draußen, meist an einem Teich oder in einem kleinen Garten mit bemoosten Steinen und sorgfältig geharktem Kies. Auf einer Holzgalerie sitzend, hatte er von einem möglichst niedrigen Standpunkt aus frontal gefilmt. Das Geheimnis bestand darin, daß man lange auf diese Dinge schauen mußte, daß man selbst zu der Geladenheit eines solchen Steins wurde, daß die Stille gefährlich wurde, doch so etwas sagte man nicht, nicht einmal zu Arno. Der mußte es später selbst sehen. In einem solchen Zen-Garten hatte alles eine Bedeutung, das wußte man, ohne es zu wissen. Das war für die anderen, die Erklärer. Ihm hatte der Anblick allein genügt.
    Er wollte Arno etwas über Elik fragen, wußte aber nicht, wie er seine Frage verpacken sollte. Nach seiner Ankunft war er als erstes nach Hause gefahren, hatte seine Sachen abgestellt. Die Kastanie bekam ihre ersten Blätter, was ihn erleichtert hatte, da zumindest hier etwas verändert war. Nein, es war der Anblick seines Zimmers gewesen, der ihn einen Augenblick lang völlig regungslos hatte verharren lassen. Zwei Arten von Zeit, die der Veränderung und die der Regungslosigkeit, des Stillstands, konnten offenbar dicht nebeneinander existieren. Er war ordentlich, vor einer Abreise legte er immer alles auf seinen Schreibtisch, woran er bei seiner Rückkehr denken mußte, einen Terminkalender, eine Liste mit Namen, einen Brief für den Freund, dem die Wohnung gehörte, für den Fall, daß er plötzlich zurückkäme. Und sonst seine namenlosen Dinge, einen Stein, eine Muschel, einen kleinen chinesischen Affen, der aufrecht stand und eine Schale hielt, das Foto von Thomas und Roelfje – das, was ihn umgab, wenn er irgendwo länger wohnte. Nichts hatte sich hier bewegt. Er war über die ganze Welt geflogen, hatte in Bussen und Zügen und Tempeln gesessen, hatte, so glaubte er, bestimmt eine Million Japaner gesehen, und während dieser ganzen Zeit hatten dieser Stein und diese Muschel hier unbeweglich gelegen, hatte der Affe seine Schale getragen, hatten seine Frau und sein Kind mit ihrem unveränderlichen Lachen ins Zimmer gestarrt, das einmal, mittlerweile war es zehn Jahre her, auf ihren Gesichtern erschienen war und nie mehr davon verschwinden konnte. Er schob den Affen und das Foto beiseite, öffnete das Fenster, so daß die Papiere auf seinem Schreibtisch aufflatterten, und hörte den Anrufbeantworter ab. Da war eine Nachricht von Erna.
    »Das ist völliger Quatsch, ich weiß ja, daß du weg bist. Es ist einfach eine dieser Nächte. Ich sah ein Boot auf der Gracht vorbeifahren, mit einem Mann, ganz allein am Steuer, so einem runden Ding mit Griffen, du weißt schon, und so einem Tschuck-tschuck-tschuck-Motor, wie auf einem großen Schiff stand der Mann da. Sonst nichts, das wollte ich dir nur schnell erzählen. Tschucktschucktschuck ist eigentlich nicht richtig, es ist eher Duck-duck-duck, so ein dumpfes Geräusch. Du weißt schon, was ich meine. Hörst du’s? Eigentlich komisch, jetzt bist du in Japan, aber wenn du das hörst, dann ist es wieder Jetzt. Ruf an, wenn’s jetzt ist.«
    Nach ihrer Stimme kamen andere, männliche, ein eventueller Auftrag, etwas wegen der Wiederholung einer alten Sendung. Dazwischen hin und wieder eine lauschende Stille, und dann ein Klick, jemand, der ihn gesucht hatte, allerdings nicht genug, um etwas zu sagen. Ja, und dann war er zum Falkplatz gefahren. Handball, Wind in den Fahnenmasten, grüne Blättchen an den mißgestalteten Bäumchen. Er hatte die Tür gesucht, aber welche war es? Die Hausnummer kannte er nicht, aber es konnte nur die Schwedter Straße gewesen sein. Oder doch die Gleimstraße? Das Haus hatte nahe einer Ecke gestanden. Er versuchte es bei einer Tür, dann einer anderen. Die modernden Zeitungen, noch immer. Dieselben? Das war fast nicht möglich. Also andere, und doch dieselben. Man sollte hier Champignons züchten. An der zweiten Tür zum Innenhof ein paar Klingeln. Hier war sie ihm vorangegangen, die Treppe hinauf. Pelzschuhe. Sie konnte nicht dasein, natürlich war sie schon längst weg, in Holland oder in Spanien, aber wo? Madrid, Santiago, Zamora? Er drückte auf alle Klingeln gleichzeitig. Es blieb sehr lange still. Dann, krächzend, eine Altfrauenstimme. Er fragte nach Elik Oranje. Der Name hörte sich fremd an auf dem

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