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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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mal richtig an.«
    Er hielt das Brot unter die Lampe.
    »Das essen in Rußland noch alle Bauern«, sagte Zenobia.
    »Es hat die Farbe der Erde.«
    »Ja, natürlich, wir machen diesen Umweg durch die Brotfabrik nicht. Erde mit Weizenkeimen, feingemahlen zwischen zwei Steinen. So sind wir.«
    Herr Schultze eilte herbei.
    »Ist etwas nicht in Ordnung?«
    »Doch, doch.«
    »Ich lasse dieses Brot eigens aus Sachsen kommen. Ein kleiner Bäcker, der macht es noch wie im Mittelalter. Ein altes Rezept. Besonders zu diesem Handkäse schmeckt es wunderbar. Aber die meisten Gäste trauen sich nicht mehr daran. Man könnte meinen, sie haben Angst davor. Der Käse stinkt ihnen zusehr.«
    »Im Mittelalter haben die Leute selbst gestunken«, sagte Victor, »das fiel also nicht weiter auf.«
    »Bringen Sie mir ein Hefe«, sagte Zenobia zu Schultze.
    »Aber Frau Doktor! Sie trinken doch noch Wein!«
    »Ich kann nichts dafür. Ich mußte auf einmal an Galinsky denken. So geht’s mir immer, wenn mein Schwager von der Unsichtbarkeit anfängt.«
    »Ich habe von gar nichts angefangen.«
    Sie zeigte auf die Ecke, in der der alte Mann immer gesessen hatte.
    »Ob noch irgend jemand an ihn denkt?«
    »Ich«, sagte Herr Schultze.
    Jetzt bewegte sich das Gespräch plötzlich in alle möglichen Richtungen. Das unwiderrufliche Verschwinden von Menschen, was wohl mit seiner Geige geschehen war, der Tagesspiegel hatte einen kleinen Bericht über ihn gebracht, wie er wohl den Krieg überstanden hatte? Arthur dachte an die Klänge von Galinskys Geige, die einst im Kranzler oder im Adlon zu hören gewesen waren. Wenn es irgend etwas gab, das wußte, wie man verschwinden mußte, so die Musik.
    »Wie ich«, sagte Zenobia. »Krieg heißt Warten. Wir haben alle nur darauf gewartet, bis es vorbei sein würde. Und jetzt ist es vorbei.«
    »Mitgefühl.«
    Das kam von Arno. Oder hatte er Mitleid gesagt? War Mitleid dasselbe wie Mitgefühl?
    Arthur fragte Victor danach.
    » Mededogen. Dogen , kennt ihr nicht, ist egal. Mededogen , Mitgefühl, ist Mitleid, gemischt mit Liebe. Ein Mantel, den man über jemandem ausbreitet. Sankt Martin.«
    »Genau was ich gemeint habe«, sagte Arno. Er versuchte, das Wort auszusprechen. » Mededogen. «
    »Aber womit?« fragte Zenobia.
    »Mit der Vergangenheit. Und mit diesem Brot. Und mit Galinsky. Aussterben, sterben. Das letzte Mal, als ich mit …« Er sah Arthur an.
    »Elik. Sprich’s ruhig aus.«
    »… ja, mit Elik gesprochen habe, ging es auch darum. Sie erzählte von all diesen Büchern, die sie lesen muß, den Namen, den Fakten, alles, was einfach irgendwo lagert … daß das eine Form von Mitgefühl sei, sich damit zu beschäftigen. Es war nicht sentimental gemeint, eher so, als könne sie nicht ertragen, daß alles so tief in Papieren, Archiven begraben war, oder als wolle sie die Macht haben, das alles wieder zum Leben zu erwecken … und gleichzeitig das Dilemma, die Vergangenheit, die doch nie so wiedergefunden werden kann, wie sie war, die gebraucht oder mißbraucht wird, um etwas damit zu erreichen, ein Buch, eine Studie, die die Wahrheit sucht und dann doch wieder in einer Konstruktion endet, die zur Lüge wird. Die Vergangenheit ist zerbröckelt, und jeder Versuch, sie wieder zusammenzufügen …«
    »In einem Wort, die Sterblichkeit«, sagte Victor, »aber, nimm’s mir nicht übel, ich fluche nicht gern.«
    »Mein Käse stirbt aus«, sagte Herr Schultze, »und mein Brot stirbt aus, und mein Saumagen wird’s auch nicht mehr lang machen. Galinsky haben wir nie Geige spielen hören, obwohl er das sein Leben lang getan hat, und das beste Mittel gegen die Sterblichkeit ist Schultzes weltberühmter Apfelkuchen. Das ist Götterspeise, stand voriges Jahr im Feinschmecker , und Götter sind unsterblich, das wissen Sie besser als ich.«
    Aber Zenobia wollte noch nicht lockerlassen.
    »Man kann Mitgefühl empfinden für alles, was verschwunden ist. Aber egal, wie formlos oder unbekannt oder vergessen die Vergangenheit auch ist, sie ist es doch, die die Gegenwart konstituiert, ob wir sie nun kennen oder nicht. Also, was macht das schon aus? Wir sind es doch selbst, oder?«
    »Ein wahrer Trost«, sagte Victor. »Und wir reihen uns geduldig in die Schlange ein?«
    »Es wird uns nicht viel anderes übrigbleiben.«
    Zenobia ließ das Hefeweizen in ihrem Glas kreisen und trank es dann in einem Zug leer.
    »Eigentlich vertragen die Vergangenheit und die Gegenwart sich überhaupt nicht. Wir müssen immer über der

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