Allerseelen
leeren Innenhof. Stinkende Mülltonnen, ein verrostetes Kinderfahrrad.
»Wohnt hier nicht! Kenn ich nicht!«
Es klang wie »gibt’s nicht«. Es gab sie also nicht.
Er klingelte noch einmal. Diesmal antwortete eine Männerstimme, verschlafen, feindselig.
»Die ist abgehauen. Kommt auch nicht mehr zurück.«
Peng.
»Was sinnierst du so«, sagte Arno. Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, kam mit einem Brief zurück oder, besser gesagt, mit einem leeren Umschlag. »Hier.«
Arthur las den Absender. Elik Oranje, c/o Aaf Oranje, Westeinde, De Rijp. Diese Schrift, Eisenspäne.
»Und der Brief?«
»War für mich. Einfach ein Abschiedsbrief, danke für die Gespräche. Vielleicht bis irgendwann mal, du weißt schon.«
»Und da stand nicht drin, wo sie hinging?«
»Nein, aber ich denke, nach Spanien. Es stand drin, daß sie sich jetzt an die Feldarbeit machen müsse. Das wird dann wohl dort sein, muß es aber natürlich nicht.«
»Nichts über mich?« Er wollte es nicht fragen und fragte es doch.
Arno schüttelte den Kopf.
»Es war ein sehr kurzer Brief. Hat mich eigentlich überrascht. Aber ich denke, diese Adresse war vielleicht für dich bestimmt.«
Arthur erhob sich.
»Ich muß los.«
Das war es. Er mußte los. Er mußte nach Holland, zu Erna, nach De Rijp, nach Spanien. Japan hatte etwas hinausgezögert oder betäubt, auch das war möglich. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Sie hatte sich versteckt, und sie hatte ein Zeichen hinterlassen, für ihn oder nicht für ihn. Einen Krümel, zwei Krümel. Aaf Oranje, ein Name wie ein Gewehrschuß. De Rijp. Noch einer. Du bist der kleine Däumling oder du bist es nicht.
»Wart mal ’nen Augenblick«, sagte Arno. »Ich bin mit Zenobia verabredet. Wir wollten bei Schultze ein Glas Wein trinken. Vielleicht können wir Victor noch anrufen? Ich habe ihn lange nicht gesehen. Das kenne ich bei ihm, dann arbeitet er. Aber deinetwegen wird er wohl kommen.«
Wiederholung des Vorhergehenden. Würste, Saumagen, Speck, Handkäse. Er denkt an das letzte Mal, als er hier war, wie er damals weggezaubert wurde. Was hatte Arno gesagt? Entführt, er war entführt worden. Entführt und wieder freigelassen. Ohne Lösegeld. Er sah seine Freunde an. Jetzt war es die dazwischenliegende Zeit, die aufgehoben wurde, Klöster, Tempel, Straßen, alles schrumpfte zusammen, er war fortgegangen und wieder zurückgekehrt. Japan befand sich irgendwo in seinem Körper, aber er konnte es jetzt nicht finden.
Victor studierte den Saumagen.
»Wie Marmor. Gewaltige Naturkräfte waren hier am Werk. Haben das zufällige Schwein in Stücke zerhackt, sein liebes Gesicht zerlegt, die Lippen anders gefaltet, Wange, Fuß, Magen, alles anders arrangiert, neben die zufällige Kartoffel gebettet, obwohl sie sich doch überhaupt nicht kannten.«
»Sie vergessen die Salzmine«, sagte Herr Schultze. »Und den Pfefferbaum, den Lorbeerbaum, die Weinrebe … Hier kommt eine ganze Welt zusammen, in aller Einfachheit.«
»Großartig«, sagte Victor. »Erst Ordnung, dann Chaos, dann wieder Ordnung.«
»Chaos«, setzte Arno verträumt an, aber Zenobia unterbrach ihn.
»Arno, du fängst nicht schon wieder an!« Und zu Arthur: »Hat er dir noch nicht erzählt, daß du eigentlich unsichtbar bist? Mystik und Wissenschaft, das geht ja noch, oder, besser gesagt, dagegen kann man nichts sagen, das kommt heutzutage in den besten Familien vor … the mind of God, so was. Aber das kommt dann wenigstens von Leuten, die wissen, wovon sie reden. Denen gönne ich ihre Macke, nur Romantik, das ertrage ich nicht. Sobald mein lieber Schwager etwas von Chaos oder Teilchen oder der Unvorhersehbarkeit der Materie liest, gehen die Pferde mit ihm durch. Für ihn ist das alles Poesie. Aber schlechte, wenn du mich fragst. Was hast du neulich gesagt? Das Universum ist durch die Schöpfung versaut worden! Aus seiner heiligen Einheit (cheiligen Eincheit) gestoßen, seinem wunderbaren, vollkommenen Gleichgewicht. Arno! So machst du aus allem ein Märchen.«
»Kommt durch dich«, sagte Arno. »Und gegen Märchen ist nichts einzuwenden. Und außerdem, es stimmt mit allen Geschichten überein. Erst war die Welt ganz und makellos, und wir haben sie versaut und wurden vertrieben, und jetzt wollen wir zurück, nicht nur ein armseliger Lyriker wie ich, sondern auch deine Kollegen. Zu spät!«
»Einige Kollegen.«
»Zu diesem Brot gibt es auch einiges zu sagen«, meinte Victor. »Es ist kurz davor, auszusterben. Schaut es euch noch
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