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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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tun.«
    »Nein, das mache ich von Tempelhof aus.«
    »Tempelhof? Fliegen sie da noch? Das war die Zeit der Luftbrücke.«
    »Ja, die Sabena fliegt da. Mit diesen wunderbaren kleinen Maschinen.«
    »Ich beneide dich. Wann kommst du zurück?«
    »In anderthalb oder zwei Monaten.«
    »Oh. Na ja, das sind wir ja von dir gewöhnt. Paß gut auf dich auf. Und bring mir Musik aus so einem Zenkloster mit. Oh ja, und nichts zu Zenobia sagen.«
    »Worüber?«
    »Über das, was ich gesagt habe, über ihr früheres Ich. Ich war ihr damals nicht gewachsen.«
    Es sah tatsächlich so aus, als errötete er.
    »Damals entschied ich mich für Vera. Wie bei Zeno, du weißt schon, dieses Buch von Italo Svevo …«
    Arthur kannte es nicht.
    »Er war verliebt in die erste, dann in die zweite, und schließlich heiratete er die dritte Schwester. Eine sehr glückliche Ehe. Aber was ich meinte, ist etwas anderes. Sie macht sich Sorgen …«
    »Über Elik? Aber sie kennt sie doch kaum.«
    »Nein, über dich. Gerade weil sie so viel von sich selbst in ihr wiedererkennt. Sie hat sie schließlich gesehen, gestern. Wir waren dabei, als du entführt wurdest, weißt du noch? Ach, hör nicht auf mich, alles nur dummes Zeug. Komm heil zurück.«
    »Ich werd mich bemühen.«
    »Willst du auch für dich selbst filmen?«
    »Immer.«
    Er sah, daß Arno noch etwas sagen wollte, und blieb in der Tür stehen.
    »Ich habe in letzter Zeit viel an diese Fragmente gedacht, die du mir gezeigt hast. Sie sind … sie sind mir in Erinnerung geblieben. Aber die waren von früher. Machst du immer noch weiter damit?«
    »Ja.«
    »Na schön, dann erübrigt sich, was ich dir sagen wollte. Ich wollte sagen, daß du weiter daran glauben mußt. Was ich darin sehe, wenn du je soweit bist – entschuldige meine Ausdrucksweise, ich habe auch meine déformation professionelle –, das ist eine Verzahnung der historischen und der ahistorischen Welt. Nein, jetzt zuck nicht gleich zusammen … davon hab ich gerade gesprochen … die historische Welt, das ist die der Ereignisse, die der Dinge, die du im Laufe der Zeit überall gedreht hast, ob als Auftragsarbeit oder nicht, spielt keine Rolle … in Bosnien, in Afrika, und hier in Berlin natürlich, die Namen, Fakten, Jahreszahlen, Dramen, aber die andere, die Welt des Alltäglichen, Unbemerkten, Anonymen, oder wie hast du das damals ausgedrückt … des Unscheinbaren, das, was keiner sieht, weil es immer da ist … ich mußte daran denken, als ich heute nacht einen Satz las, einen Ausspruch von Camus, der ungefähr so lautete: ›Ihr habt mir beigebracht, wie man die Welt klassifiziert, wie die Welt funktioniert, die Welt der Gesetze und des Wissens, und jetzt weiß ich nicht mehr, warum ich das alles lernen mußte …‹ Ich weiß nicht mehr genau, wie dieser Satz ging, aber dann sagt er auf einmal: ›Ich begreife viel mehr, wenn ich diese wogenden Hügel anschaue.‹ Diese wogenden Hügel, daran erinnere ich mich ganz deutlich, und dann noch etwas über den Abend und über seine Unruhe, aber bei diesen wogenden Hügeln, da mußte ich an dich denken. Bring ein paar wogende Hügel aus Japan mit, ja?«
    Und damit schloß er leise und entschlossen die Tür, wodurch Arthur Daane für einen Moment das Gefühl hatte, hinausgesetzt worden zu sein. Auf dem Flughafen Tempelhof versuchte er noch, Zenobia zu erreichen, aber sie ging nicht dran. Eine Stunde später, nachdem die kleine Maschine mit übermütigen Sprüngen über die fetten Wolken geklettert war, sah er zum zweitenmal in zwei Tagen die Stadt unter sich liegen. Er drückte die Stirn an die Kunststoffscheibe und versuchte, den Falkplatz, die Schwedter Straße und den Gleimtunnel zu finden, aber es gelang ihm nicht mehr. Er schob die CD, die Arno ihm gegeben hatte, in seinen CD-Player und lauschte den Frauenstimmen, die, so schien es, höher hinauffliegen wollten als das Flugzeug selbst.
    *
    * *

Das Davor und das Danach. Die Griechen hielten nichts davon, den Einfluß zu zeigen, den die Zeit auf Stimmungen und Gefühle hat. Ja, das wissen wir, weil wir es wissen müssen. Natürlich sind wir noch immer da, es ist uns nicht gegeben, sie loszulassen. Es geschieht zuviel und zuwenig. Bei der Medea des Euripides darf der Chor erzählen, daß er weiß, was danach kommt. Bei Sophokles darf er bitten und flehen, aber er sagt nichts vorher. Wir selbst spinnen nichts, aber wir sehen das Gespinst, sogar die Zeitdifferenz bedeutet für uns nichts. Tag und Nacht fließen wie eine Art

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