Allerseelen
Flüssigkeit um die Erde, das macht uns nichts aus, wir schlafen nie. Wir sehen nur. Victor spielt Klavier in seinem nächtlichen Atelier, ein ganz langsames Stück, die Zeit kann es selbst kaum ertragen, so intim gemessen zu werden. Dabei denkt er an Arthur, der schon seit sechs Wochen weg ist. Ob er ihm fehlt? Das wüßten wir, wenn Victor sich selbst erlaubte, darüber nachzudenken, doch das ist nicht der Fall. Er denkt an ihn, er erkennt, daß es diesen abwesenden Freund irgendwo auf der Welt gibt. Der Freund selbst denkt nicht an Victor, er denkt an Arno, wegen der langen Reihe von Mönchen vor ihm. Sechzehn hat er gezählt, sie singen nicht, sie meditieren. Zazen . Sechzehn Männer im Lotussitz, die Hände merkwürdig gefaltet, ein Daumen liegt immer oben. Er kennt diese Haltung von den vielen Figuren, die er in den vergangenen Wochen gesehen hat. Doch diese Figuren sind aus Fleisch. Dunkel ist es, die verschlossenen Gesichter über den schwarzen Mönchsgewändern sind auch wirklich verschlossen, Konzentration hat sie versiegelt, nichts dringt aus ihnen heraus. Ja, wenn ihr das unbedingt wissen wollt, wir kennen auch diese Gedanken, aber darum geht es jetzt nicht. Sie suchen Abwesenheit, und die ist schwer zu finden, sogar für sie. Arthur registriert ihre Reglosigkeit, das niedrige Podest, auf dem sie sitzen, das dunkelglänzende Holz, das spärliche Licht aus den Reispapierfenstern, die flachen Sandalen, die vor ihnen auf dem Steinfußboden stehen. Er darf nicht filmen, darum sieht er besser. Gleich werden sie singen, aber so kann man diese Laute eigentlich nicht nennen, es ist eher ein Brummen, ein Geräusch wie von zehntausend Hummeln, ein lang angehaltenes Dröhnen, in dem sich Worte verbergen, er wird von deren Unverständlichkeit eingesponnen. Wovon hatte Arno gesprochen, Unsichtbarkeit, Durchsichtigkeit? Dieses Geräusch dröhnt mitten durch sein Innerstes, es wickelt sich um die Wochen, die er nun schon hier ist, Pilgerpfade, heilige Berggipfel, Frömmigkeit, Vulgarität, heilige Gegenstände, Zedern, mit Tauen umkränzt, als wären es ebenfalls Heilige, bemooste Steine, Kirschbäume mit so vielen Blüten, daß er an die verschneite Kastanie in Berlin denken muß, Gongschläge, deren Vibrationen man beinahe sehen kann. Während seine Kamera ihn auf all diesen Wegen niedergedrückt hat, als säße ihm ein steinerner Affe auf der Schulter, hat er selbst fast die ganze Zeit gedacht, daß er schwebe, daß er nicht ganz wirklich sei. Er hatte Arno etwas antworten wollen, damals, und wie fast immer hatte er es nicht gekonnt, er war ein Wiederkäuer, erst jetzt wußte er, daß man diese Transparenz auch körperlich spüren konnte. Seine beiden Toten und die eine Lebende hatte er noch immer bei sich, genauso wie er seine Freunde bei sich hatte, wenn auch in unermeßlicher Entfernung. Er war jetzt ausschließlich hier, sie wurden für ihn bewahrt, bis seine Abwesenheit aufgehoben wäre, bis die Welt ihn mit Trauer und Sehnsucht zur Ordnung riefe. Und auch dann würden diese Stimmen hier ertönen, doch er würde sich ihnen entzogen haben, und sei es nur, weil er nicht wußte, wie man zu sein hatte, wenn man hier bleiben wollte. Ein Gongschlag, das tiefe Singen begann, diese Männer hatten große steinerne Keller in ihren Körpern, in denen solche Töne produziert wurden. Hugo Opsomer hatte ihm den Wortlaut der Sutras gegeben, die sie sangen, doch das brachte sie ihm trotzdem nicht näher. Es war wahr in dem Augenblick, in dem sie sangen, wahr, weil sie es sangen. Doch die Worte entglitten ihm. Nie hatte er die richtigen Worte für das finden können, was er wirklich dachte. »Du denkst mit den Augen.« Erna. Wir sehen, wie er sich aus seiner verkrampften Haltung erhebt und zu seiner Kamera greift. Später wird er sehen, was er in diesen Wochen gedacht hat. Das sagen nicht wir, das sagt er. Ja, natürlich zu niemandem. Zu sich selbst. Bei euch heißt es immer: Ich wußte, daß du an mich gedacht hast. »Gestern hab ich auf einmal gespürt, daß du an mich gedacht hast, war das auch so?« Manchmal wird gelogen, manchmal stimmt es.
Im Nachtzug nach Hendaye denkt Elik Oranje an Arthur Daane. Sie kann nicht schlafen, jetzt nicht und damals nicht. Jetzt nicht, weil sie in einem schmalen Schlafwagenbett hin- und hergeschüttelt wird, weil ein Mann unter ihr liegt, der schnarcht, weil der Zug sie gleichzeitig vor und zurück wirft, zu dem, was sie nicht mehr will und darf, zu dem, was jetzt zu tun ist. Ihre Bücher hat
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