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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Vergangenheit stehen, wir müssen sie immer mitschleppen, wir können sie nie mal für einen Moment ablegen, weil wir es selbst sind, und trotzdem ist es sinnlos, denn du kannst nicht mit rückwärts gerichtetem Blick leben.«
    »Mit Ausnahme von Historikern«, sagte Arno.
    Herr Schultze brachte den Apfelkuchen.
    »Mit rückwärts gerichtetem Blick leben.« Der Satz saß wie ein Angelhaken. Hatte er das all die Jahre getan? Und ließ sich das vermeiden, wenn man mit Toten umgehen mußte?
    »Weißt du noch, wie wir uns die Bilder von Caspar David Friedrich angeschaut haben?« fragte Victor.
    Er wußte es noch.
    »Wieso?«
    »Wenn du sie dir anschaust, dann schaust du zurück. Aber er hat nach vorn geschaut.«
    »Und was hat er da gesehen?«
    »Munchs Schrei . Wenn du genau hinschaust, kannst du ihn hören.«
    Arthur erhob sich.
    »Arrivederci tutti«, sagte er zu seiner eigenen Überraschung auf italienisch. Sie sahen ihn an.
    »Läßt du uns allein?« fragte Zenobia.
    »Ich komme wieder«, sagte er, »ich komme immer wieder zurück.«
    »Aber wo fährst du jetzt hin?«
    »Nach Holland.«
    »Ach«, sagte Victor, »da soll es ziemlich voll sein.«
    »Und dann nach Spanien.«
    »Na, denn man los!«
    Ich bin wieder am Anfang, dachte Arthur. Ein Sommertag, Rhododendren. Vor zehn Jahren, neun Jahren? Er bückte sich, um Zenobia zu küssen, sie aber packte sein Handgelenk in einem eisernen Griff und zwang ihn auf den Stuhl neben sich.
    »Setz dich!«
    Das war ein Befehl. Sie hätte genausogut »Platz!« rufen können.
    »Das ist nicht fair. Du kommst, und du gehst. Du hast uns noch gar nichts erzählt.« Jetzt packte sie auch sein anderes Handgelenk. »Erzähl uns wenigstens, was das Schönste war! Das Schönste, das Ergreifendste? Wann hast du an uns gedacht, wann hast du gedacht, schade, daß sie das nicht sehen können?«
    »Nicht sehen. Hören.«
    Er legte die Hände an seinen Mund und machte das Geräusch nach, das hier, in diesem geschlossenen Raum, nie genauso klingen konnte. Ein hohes, alles durchdringendes Heulen, das Hügel und Berghänge benötigte, um sich an ihnen brechen zu können, um über die Welt zu rollen und alles mit dem sich überschlagenden Klang seiner Klage antasten zu können. Es ließ sich nicht nachmachen.
    »Und das mal zehn«, sagte er hilflos. »Und dann in den Bergen.«
    »Ich spür’s hier!« Zenobia schlug sich auf das Brustbein.
    »Tritonshörner?« fragte Victor.
    Arthur nickte. Bei ihm hatte es länger gedauert, bis er es wußte. Stunden war er bergan gewandert, auf einem Waldweg von quälender Allmählichkeit, nach jeder sanften Biegung schien es, als setze sich die Steigung bis ins Unendliche fort. Und dann, mit einemmal, hatte dieses Geräusch begonnen, fern und rätselhaft, es war eins geworden mit seiner Müdigkeit, dem leichten Regen, dem Bergaufgehen, dem undurchdringlichen Grün der Bäume, die den Blick auf das Kloster behinderten, das irgendwo da oben liegen mußte. Hin und her war es gegangen, das Rufen, zwischen dem Berghang, an dem er sich befand, und dem auf der unsichtbaren anderen Seite, zwei vorweltliche Tiere hatten einander Klagen, Aussagen zugerufen, die die Welt zusammenfassen sollten, Stimmen ohne Worte, die alles ausdrücken konnten, was sich in Worten nicht sagen ließ. Erst später, als er viel näher herangekommen war, hatte er ihn gesehen, den Mönch, einen noch jungen Mann, der im Lotussitz auf einer Bambusgalerie saß und über das Tal blickte, das von dort aus zu sehen war, Hänge, die herabfielen und dann dort, was man als andere Seite bezeichnen mußte, zu der von Regennebeln verschleierten anderen Welt wieder hinaufkletterten, aus der die Antwort kam, die Gegenklage. Jedesmal, wenn sie aufgehört hatte, verhallt war, hatte der Mönch sein Tritonshorn wieder erhoben, einen Augenblick lang in der plötzlich unerträglich gewordenen Stille gewartet und dann wieder geblasen, menschlicher Atem, der durch die einst von einem mächtigen Weichtier bewohnten runden Gänge gepreßt wurde, bis ein Klang den Berg erzittern ließ. Angst hatte er dabei empfunden. Vielleicht hatte er damals deshalb an diese drei Menschen gedacht, von denen er jetzt Abschied nehmen mußte. Er hob die Arme empor, so daß Zenobia ihn loslassen mußte, umarmte Arno, verbeugte sich vor Victor, weil man Victor nicht berühren konnte, drehte sich dann rasend schnell um, fast eine Pirouette, und verließ die Weinstube, ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen. Erst draußen fiel ihm ein, daß

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