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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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er sich von Herrn Schultze nicht verabschiedet hatte.
    Jetzt mußte alles sehr schnell gehen. Jetzt ging alles sehr schnell. Am nächsten Nachmittag stand er am Westeinde in De Rijp.
    »Holland? Ach …«, hatte Victor gesagt, und vielleicht war es tatsächlich so.
    »De Rijp?« Erna. »Was willst du da um Himmels willen? Wenn du nach De Rijp fährst, dann muß eine Frau im Spiel sein. Wohnt sie da?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Tu nicht so geheimnisvoll. Du benimmst dich wie ein Backfisch.«
    »Ich wußte gar nicht, daß es dieses Wort noch gibt!«
    »Soll ich mitkommen?«
    »Nein.«
    »Siehst du?«
    Und jetzt war er hier allein. Eine lange Straße, Häuser, durch die man durchgucken konnte. Victors »Ach« hatte er nicht als Mitleid aufgefaßt, sondern als etwas, das viel schwerer zu deuten war. Orte wie dieser drückten das Wesen eines Landes aus, das es im Grunde schon nicht mehr gab, sie lagen noch in ihren geradlinigen grünen Polderlandschaften, als wäre nicht ganz in der Nähe eine Metropole entstanden, in der mehrere Großstädte gefräßig aufeinander zustrebten, eine eigenartige Bastardform von Los Angeles, mit den immer enger eingeschlossenen musealen Stadtkernen und abbröckelnden Stücken Imitationslandschaft als Variante.
    Er ging an den niedrigen Backsteinhäusern entlang, sah die Zimmerpflanzen, die aufgezogenen blendend weißen Gardinen, die Fliegenfenster, die Sitzgarnituren, das geputzte Messing, die Perserteppiche auf den Kugelfußsofatischen, spätbürgerliche Versionen von Interieurs auf Bildern aus dem Goldenen Jahrhundert. Die Menschen hinter diesen lichten Fenstern bewegten sich mit einer selbstverständlichen Sicherheit durch ihr eigenes kleines Reich, er verspürte eine idiotische Rührung und wollte gleichzeitig hineinschauen und nicht hineinschauen, letzteres wegen der zu großen Intimität, und ersteres, weil die Einladung dazu so nachdrücklich war, schau nur, hier sind wir, wir haben nichts zu verbergen.
    Beim Haus von Aaf Oranje war es nicht anders gewesen. Eine braun gebeizte Tür mit einem weißen Namensschild aus Email. Aaf Oranje. Auf dem Briefschlitz ein Aufkleber: Keine Werbung. Roter Backstein, glänzend gestrichene Fensterrahmen. Er hatte an der Messingglocke gezogen, auf die Schritte gewartet, die kommen mußten, aber nicht kamen. Er sah durchs Fenster. Gummibaum, Sansevierie, Kaktus, Schirmlampe, Perserteppich auf dem Tisch und darauf eine Schale mit Apfelsinen, auf dem Büfett eine Bücherreihe, ein Foto eines jungen Mädchens mit einer Narbe, ein Foto eines Mannes in einem Anzug von vor dreißig Jahren. Hier hatte sie also gelebt nach Spanien. Ein wahnwitziger Wechsel. Er wartete noch einen Moment und ging dann die Klinkerstraße hinunter in Richtung Kirche. Durch die Fenster sah man die Wiesen. Rechtestraat, Oosteinde, das Rathaus mit den hohen Treppen. Auf dem Friedhof las er die Namen, Nibbering, Taam, Commandeur, Oudejans, Zaal. Von der weißen Brücke aus fütterte ein alter Mann die Schwäne. Er ging zwischen den Gräbern umher, las die Jahreszahlen dieser vergangenen Leben, die Inschriften

    Stille, uns berührend, sagt: Wohl nun,
    Abend ist’s und recht, zu ruh’n,
    setzte sich auf eine Bank und stand wieder auf. Recht, zu ruh’n. Was hatte Erna gesagt? »Du gehst so komisch. Ich sehe immer, wenn du müde bist. Diese Kamera macht dich irgendwann noch mal ganz zu Schrott.«
    Aber es war nicht die Kamera, es war Japan, Berlin, und das war es auch nicht, sondern das alles zusammen und dann noch jemand, der in deinem Leben aufgetaucht und genauso plötzlich wieder verschwunden war, ohne daß man daran etwas ändern konnte. Dies hier war lediglich ein Versuch, ihr näher zu kommen, doch hier war sie ferner denn je. Vielleicht hatte die Angabe dieser Adresse ja auch gar nichts zu bedeuten. Schließlich war der Brief an Arno gerichtet, nicht an ihn.
    »Warum bleibst du nicht einfach eine Weile hier? Du hast hier schließlich auch ein Zuhause.«
    Aber es gab kein Hier, Hier mußte jetzt etwas sein, wo sie war, und außerdem konnte er es in seiner Wohnung nicht aushalten. Durch die großen Fenster im neunten Stock sah man nach Norden, auf die Polder Nord-Hollands, die grüne Leere hatte ihm klargemacht, was er zu tun hatte, und genau das tat er jetzt. Er klingelte und wußte, daß ihn jemand von gegenüber beobachtete. Man durfte hineinschauen, aber auch hinaus. Schritte, die Tür ging auf. Eine alte Frau, das weiße Haar straff zurückgekämmt, klare blaue Augen. Die

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