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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Berberaugen haben gewonnen, dachte er.
    Die blauen zeigten keinerlei Überraschung. Er wurde hier erwartet und wußte nicht genau, was das bedeutete, außer, daß die Adresse nicht umsonst auf dem Brief gestanden hatte. Oder trieb hier jemand sein Spiel mit ihm?
    Als er eine Stunde später wieder auf der Straße stand, hatte er das Gefühl, ein Gespräch mit einem Staatsmann geführt zu haben. Aaf Oranje hatte ihm genau gegenüber gesessen und nicht mehr preisgegeben, als sie wollte, keine Adresse, keine Vertraulichkeiten, sie hatte ihn gewogen und, so glaubte er, nicht zu leicht befunden und gleichzeitig ein verstecktes Plädoyer zugunsten ihrer Enkelin gehalten, indem sie ihm genau so viel erzählte, wie nötig war, um zu erklären, was zwischen ihm und Elik vorgefallen war, ohne je zu zeigen, sie wisse, was das genau war. Entschuldigungen wurden nicht angeführt, am ehesten glich es einem Auftrag, der peinlich genau ausgeführt wurde. Hier saß jemand, der sich längst damit abgefunden hatte, daß die Tochter ihrer unglücklichen Tochter jemand war, der seinen eigenen Kurs bestimmte, vielleicht sogar gegen besseres Wissen. Ob die Großmutter damit einverstanden war, spielte keine Rolle. Leiden, so wurde suggeriert, hatte Konsequenzen, und selbst wenn diese Konsequenzen neues Leiden nach sich zögen, verlangte die Solidarität zwischen Großmutter und Enkelin, oder vielleicht ganz einfach die zwischen Frauen, bedingungslose Unterstützung. Zwischen dieser alten Frau und dem hochgewachsenen, nicht mehr ganz jungen Mann ihr gegenüber würde kein Vertrag geschlossen werden, auch wenn sie das gewollt hätte. Elik sei aus Berlin zurückgekehrt, es habe ein Problem gegeben, zu dem sie, ihre Großmutter, sich nicht äußern dürfe, und jetzt sei sie in Spanien, einem Land, das ihrer Mutter zum Verhängnis geworden sei. Einst hatte die Frau, die ihm gegenübersaß, ihre Enkelin als Halbwilde aus diesem Land zurückgeholt, um sie hier großzuziehen, da der Vater spurlos verschwunden war und man der Mutter das elterliche Sorgerecht entzogen hatte. Das hatte sie allein getan, ihr Mann, sie deutete auf das Büfett, war früh gestorben, wie Eliks Mutter. Nein, eine neue Adresse hatte sie noch nicht, und ohne Eliks Zustimmung hätte sie sie ihm ohnehin nicht gegeben. Die Willensstärke, dachte er später, als er wieder draußen war, hatte in dieser Familie eine Generation übersprungen. In dem Berberkopf steckte noch einiges von Nord-Holland.
    Pfeifkessel, Stille in dem plötzlich leeren Zimmer, als die Frau in der Küche war, Verlangen, aufzustehen und dieses Gesicht hinter Glas in dem silbernen Rahmen zu berühren, sich auf das Sofa zu legen und hierher zu gehören, und sei es auch nur für wenige Stunden, holländischer Kaffee, Kekse aus einer Dose, Formen unduldbaren Heimwehs, der Reisende auf seine wahren, geheimen Proportionen reduziert, das Unmögliche. Und die unmögliche Frage doch nicht gestellt: was sie über ihn gesagt hatte? Das paßte nicht zu einem Gespräch von so hohem politischen Niveau. Nur die andere Frage, die erst möglich war, nachdem klargeworden war, daß weiter nichts erklärt, nichts vermittelt, nichts versprochen würde: »Woher wußten Sie, daß ich kommen würde?«
    »Sie wollte nicht, daß ich dadurch überrascht würde.« Das war natürlich keine Antwort. Er hatte lediglich gehorcht. Das also war das Spiel. Geradsinnig, dachte er plötzlich, das war das Wort, das zu diesen Augen gehörte. Man konnte in diese Augen schauen, bis man die Wahrheit sah, aber das bedeutete noch nicht, daß man eine Antwort bekam, wenn man fragte.
    »Sie werden Sie in Spanien schon finden.« Dies war die Wendung, die er nicht erwartet hatte. Aber der Satz war noch nicht zu Ende. »Aber ich weiß nicht, ob das gut für Sie ist.«
    Er schluckte und wußte nicht, was er sagen sollte. Mit einemmal wußte er auch, daß diese Frau über Roelfje und Thomas Bescheid wußte. Sie kannte ihre Namen nicht, aber sie wußte es. Und auch sie hatte zwei Tote. Im Flur ein anderes Licht, weniger hell. Sie hatte die Tür so geöffnet, daß sie im Schatten stand, nicht sichtbar für die Straße. Ganz kurz eine Hand auf seinem Arm.
    »Sie müssen vorsichtig sein. Es geht ihr vielleicht nicht gut.«
    Vielleicht, doch die Tür war bereits wieder zu. Das also war die Botschaft. Er hörte seine Schritte auf den Klinkern, auf dem Weg nach Spanien. Lange Wege, er kannte lange Wege. Auch wenn man die Entfernung schnell zurücklegte, waren es lange

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