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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Wege.
    »Du bist verrückt«, sagte Erna.
    Sie standen vor ihrem Fenster an der Gracht.
    »Du bist gerade erst zurück aus Berlin, aus Japan und, was war’s, Rußland?«
    »Estland. Aber das Thema hatten wir bereits.«
    »Na ja. Man könnte meinen, der Teufel ist hinter dir her.«
    »Vielleicht ist es ja umgekehrt.«
    »Arthur, warum sagst du mir nicht einfach, worum es geht? Ich bin deine älteste Freundin. Ich frage nicht aus Neugierde.«
    Er erzählte. Als er fertig war, sagte sie nichts. Er sah, daß die Bäume an der Gracht voller zu werden begannen. Mitte Juni, es ging schnell. Die Laternen waren angegangen, ein oranger Schein. Sie hörten ein Boot, es hatte vorn eine kleine Lampe und kam unter der Reguliersgrachtbrücke heraus. Ein großer Mann stand am Ruder.
    »Da ist er wieder«, sagte Erna. »Ich wollte, er würde was singen.«
    »Sein Boot singt doch schon. Duck-duck-duck, du hast es treffend nachgemacht. Warum soll er auch noch singen?«
    »Weil mich deine Geschichte so traurig macht.«
    Eine Zeitlang standen sie sehr still da. Er sah sie an. Noch immer Vermeer.
    »Du siehst mich so prüfend an. Du schaust, ob ich älter werde.«
    »Du wirst nicht älter.«
    »Red keinen Stuß.«
    Stille. Das Geräusch des kleinen Bootes erstarb in der Ferne.
    »Arthur?«
    Er gab keine Antwort.
    »Wenn du alles zusammenzählst, wieviel Stunden hast du diese Frau dann gesehen?« Und nach einer Weile: »Warum sagst du nichts?«
    »Ich zähle. Einen Tag. Einen langen Tag.«
    Es konnte nicht wahr sein. Es waren Jahre, lange, lange Jahre. Zeit war Unsinn, das hatte Dalí mit seiner schmelzenden Uhr richtig erfaßt. Unsinn, der weggeflossen war und einem doch in den Knochen steckte.
    »Warum wartest du nicht eine Zeitlang?«
    »Das geht nicht mehr.«
    Er dachte, jetzt sagt sie gleich, für so einen Quatsch bist du mittlerweile zu alt. Aber sie sagte etwas ganz anderes.
    »Arthur, diese Frau ist eine schlechte Nachricht.«
    »Du hast kein Recht, das zu sagen.«
    Erna hatte einen Schritt zurück getan.
    »Das ist das erste Mal, daß du mich angeschrien hast. Ich dachte, jetzt schlägst du mich gleich. Du bist ganz weiß im Gesicht.«
    »Ich würde dich nie schlagen. Aber du urteilst über jemanden, den du überhaupt nicht kennst.«
    »Ich habe dir gut zugehört. Es ist kein Urteil.«
    »Was dann? Eine Prophezeiung? Die magische weibliche Intuition?«
    »Von mir aus … Ich mache mir Sorgen um dich, das ist alles.«
    »Findest du das nicht selbst ein bißchen lächerlich? Ich habe das Recht auf meine eigenen Irrtümer, falls es überhaupt einer ist. Jedenfalls werde ich daran nicht sterben.«
    Sie zuckte mit den Achseln.
    »Laß uns was trinken gehen.« Und dann: »Wann willst du fahren? Muß noch was gewaschen werden? Du kannst es in die Waschmaschine tun. Du weißt, ich bin eine altmodische Büglerin.«
    Er atmete tief durch.
    »Ich wollte nicht schreien. Aber warum hast du das gesagt?« Er wiederholte ihre Wort mit demselben Nachdruck, in derselben Geschwindigkeit: »Diese Frau ist eine schlechte Nachricht.«
    Sie sah ihn an, und durch sie hindurch sah er Roelfje. Das war sentimentaler Quatsch, aber so war es. Jemand hatte etwas zu ihm gesagt. Wer hatte etwas zu ihm gesagt?
    »Du kannst zu gut erzählen«, sagte Erna, »das ist alles. Ich habe diese Frau gesehen, während du erzählt hast, ich meine …«
    Sie beendete ihren Satz nicht und sagte dann lahm: »Try your luck. Wie fährst du?«
    »Mit dem Auto.«
    »Mit dem ollen Ding?« Er hatte eine alte Volvo Amazone.
    »Ja.«
    »Und wann fährst du?«
    »Jetzt.«
    »Nun mach aber mal halblang. Du mußt doch erst noch alles regeln?«
    Er hob sein Handy hoch.
    »Kannst du denn in die Wohnung? Hast du deinen Freund schon angerufen?«
    Da mußte man es immer ein paarmal klingeln lassen, weil Daniel García einen Teil seines Körpers in Angola hatte liegenlassen, wie er es selbst ausdrückte.
    »Das ist das Eigenartigste, wenn das Unheil aus der Erde kommt. Selbst wenn man weiß, daß es passieren kann – erwarten tut man es nicht. Landminen, das sind wirklich die Blumen des Bösen. Unheil kann horizontal oder vertikal sein, aber selbst dann doch nie von unten nach oben. Bomben sind vertikal, Kugeln horizontal. Du fällst irgendwo rein, oder irgendwas fällt auf dich runter, aber es gehört sich nicht, daß das Verhängnis aus der Richtung des Grabes kommt. Dort mußt du irgendwann hin, aber es darf nicht zu dir kommen, das ist nicht richtig, das ist unanständig.« In ihrer

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