Allerseelen
Branche wurde Daniel der Philosoph genannt, und nach Arthurs Meinung stimmte das auch. Dieselbe Welt, in der auch er sich bewegte, bekam durch Daniels abweichenden Kommentar ein völlig anderes Gesicht. Darin war eine Landmine eine negative, unterirdische Pflanze, die in einer einzigen verhängnisvollen Sekunde auf schreckliche Weise erblühte, eine fleischfressende Blume des Todes und der Zerstörung, die seine linke Hand und einen Teil seines linken Beins mitgenommen hatte, »wohin ich ihnen nicht mehr folgen konnte. Weiß der Himmel, wo sie sich rumtreiben.«
Mit dem Verlust war er radikal umgegangen.
»Die CNN hat einen hohen Preis für die fehlenden Teile bezahlt, das ehrt sie.«
Nach seiner Rehabilitation war er nach Madrid gezogen (»da falle ich nicht so auf«), hatte sich eine großformatige Kamera gekauft und war mittlerweile trotz seiner Behinderung einer der gefragtesten Fotografen für Spezialaufträge. Die erste große Reportage, die er gemacht hatte, war eine über Opfer von Landminen in Kambodscha, Irak und natürlich Angola gewesen. »Man muß immer das machen, womit man sich am besten auskennt.«
Jetzt aber nahm keiner den Hörer ab, und Arthur merkte, wie gern er die dunkle Stimme mit dem nicaraguanischen Akzent gehört hätte.
Daniel García hatte einen stämmigen, fast quadratischen Körper (»das ist mein mathematischer Einschlag«), dunkelgraues dickes Kraushaar – » krusuwierie heißt das bei euch in Surinam, das hast du nicht gewußt, was? Wozu hattet ihr denn Kolonien, wenn du so was nicht weißt?«
»Surinam gehört uns nicht mehr.«
»Oh nein, Vater, so leicht kommst du mir nicht davon. Einmal genommen, immer genommen.«
Sie kannten sich von einem Dokumentarfilmfestival, auf dem sie beide einen Preis der Europäischen Gemeinschaft bekommen hatten, einen in durchsichtigen Kunststoff eingefaßten Minilorbeerkranz aus Blattgold in einer großen, mit violettem Samt ausgeschlagenen Schachtel. (»Die Friseurschachtel nehm ich nicht mit, wenn ich verreise, dann hab ich ja gleich ein ganzes Geschwader Schwuchteln auf den Fersen. Wenn du einen Hammer hast, dann kloppen wir das Gold ganz schnell raus.«)
»Und jetzt?« fragte Erna.
»Ich versuch’s heute abend noch mal.«
»Dann gehen wir jetzt einen trinken, und dann komm ich mit zu dir.«
»Wozu?«
»Waschen, bügeln, Koffer packen. Du hast keine Ahnung, wie schön es ist, einem Mann auf die Sprünge zu helfen.«
»Ich hab nicht mal ein Bügelbrett.«
»Dann nehm ich deinen Tisch. Und hör jetzt auf, rumzunölen.«
Während sie herumwerkelte, hatte er die Spanienkarte auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. Er wußte, daß das Verlangen, das er jetzt empfand, nichts mit Elik Oranje zu tun hatte. Welche Strecke sollte er fahren? Leise murmelte er die Ortsnamen vor sich hin: Olite, Santo Domingo de la Calzada, Uncastillo, San Millán de Suso, Ejea de los Caballeros … Mit fast jedem verband ihn eine Erinnerung.
»Was summst du so?«
»Jetzt schau doch mal selbst, all die leeren Flächen. Das ist das leerste Land Europas.«
»Und das gefällt dir?«
Gefallen war nicht das richtige Wort. Wie aber sollte man das umschreiben, die Anziehungskraft dieser wüstenartigen Landschaften, gegerbt, ausgelaugt, kalkig, die sandfarbenen versteinerten Tafeln des Hochlands. Es war ein physisches Gefühl, das sich mit seiner Liebe zu dieser Sprache verbunden hatte.
»Mir ist Italienisch lieber«, sagte Erna, »Spanisch ist eine richtige Männersprache.«
»Darum ist es auch so schön, wenn Frauen sie sprechen. Hier«, und er streckte den Finger aus, »so will ich fahren, von Oloron-Sainte-Marie aus genau nach Süden, dann über die Berge, Jaca, Puente de la Reina, Sos, Sádaba, Tauste … alles gelbe und weiße Straßen, und dann durch die Serranía de Cuenca nach Madrid.«
»Aber das ist ein Umweg. So eilig ist es dir also doch wieder nicht. Oder hast du Angst?«
»Könnte sein. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Aber warum fährst du dann?«
»Ich muß jemandem eine Zeitung bringen.«
»Ach, dir ist nicht zu helfen.«
Nein, ihm war nicht zu helfen. Daniel antwortete nicht, die Amazone brach irgendwo in Les Landes zusammen, die Tage krochen dem Monatsende entgegen, es mußte auf irgendein Ersatzteil gewartet werden, er bekam zuviel von den düsteren, kultivierten Forsten, die nirgendwo ein Wald werden wollten, was er von seinem Hotelfenster aus sah, war eine Vorhölle aus einer Million mickriger Kiefern. Er rief Erna an, die
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