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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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darum, warum er sich an jenen Augenblick erinnerte, an dem man zum erstenmal etwas vom Charakter eines anderen wahrnimmt.
    »Und trotzdem würde ich Ihnen gern ein paar Fragen zu der Beziehung zwischen den Niederlanden und Deutschland stellen. So lautet schließlich mein Auftrag. Die Vorstellung von der deutschen Einheit, von einem neuen, großen Deutschland ist für viele Niederländer sehr bedrohlich …«
    »Igitt«, sagte Victor. »Findest du das nicht sonderbar, kein Gesicht und trotzdem eine Maske?«
    Wie war es möglich, daß seine Erinnerung jetzt den Schnee wegfegte, den Springbrunnen springen, die Bäume blühen ließ? Mit Ausnahme des Tonmanns trugen sie alle drei Sommerkleidung. Nur an das Mädchen konnte er sich nicht mehr erinnern. Sie hatte also kein Gesicht gehabt. Aber wie stand es mit Victor, der stets jegliche Gefühlsregung aus seinem Gesicht verbannte? Die leere Stelle draußen, im Schnee, dort, wo sie jetzt nicht mehr standen, hatte dieses sommerliche Gespräch für ihn wachgerufen. So war es immer, eine Welt voll leerer Stellen, an denen man in verschiedenen Konstellationen aufgetreten war, Gespräche, Streitereien, Lieben, und an all diesen leeren Stellen irrte ein Geist von dir herum, ein unsichtbarer, ungültig gewordener Doppelgänger, der diese Räume mit keinem einzigen Atom füllen konnte, eine frühere Anwesenheit, die jetzt zu einer Abwesenheit geworden war und sich an dieser Stelle mit der Abwesenheit wieder anderer vermischte, ein Reich von Verschwundenen und Toten. Tot war man, wenn man sich sogar an sein eigenes Verschwinden nicht mehr erinnerte.
    »Im Himmel gehen eine Million Seelen in eine Streichholzschachtel.« Ausspruch von Erna.
    »Woher hast du das?«
    »Von meiner Mutter.« Ihre Mutter war drei- oder viermal verheiratet gewesen, und Erna hatte sie mal gefragt, welchen ihrer Männer sie nach ihrem Tod am liebsten wiedersehen würde.
    Nachdem die Interviewerin und der Tonmann gegangen waren (»Also, vielen Dank, da werden sie sich in Hilversum wahnsinnig freuen«), hatte Victor Arthur zu dem Mausoleum mitgenommen, das hinter dem Schloß im Park lag.
    Frühling, herumtollende Hunde, ein Geiger, der gegen ein mechanisches Orchester anspielte, das in einem Ghettoblaster zu seinen Füßen eingesperrt war. (»Ganz kleine Männer und Frauen, und die kommen da nie mehr raus. Ein Pfuhl der Unzucht und Inzucht. Igitt. Übrigens, Sie spielen gar nicht so schlecht.«) Victor in einer teuren Lederjacke, die ihn wie Satin umfloß. Diesmal ein blauer Schal, mit weißen Polkatupfen. Lou Bandy 2 . (»Wissen Sie überhaupt noch, wer das war?«) »Ich möchte dir etwas zeigen. Gehört in die Rubrik Lehre fürs Leben. Nicht weinen.«
    Lou Bandy, es war in der Tat ein Wunder, daß er das noch wußte. Irgendwann einmal, alte Aufnahmen. Wie in den Wochenschauen damals, diese merkwürdigen hohen Laute, als hätten die Menschen früher andere Stimmen gehabt, Stimmen, die jetzt ausgestorben waren. Victor kannte alle seine Lieder.

    »Ich bin verliebt/in ’ne Masseuse/
    Eine graziöse/schön muskulöse/
    Plagt mich die Gicht oder ’s Rheuma wieder/
    Dann reibt sie mir/reibt mir die Glieder/
    Und wohl wird’s mir/am ganzen Leibe …
    Die dreißiger Jahre. Und nach dem Krieg das Gas, er konnte den Abstieg nicht ertragen. Aber immer mit Schal früher, o ja. Und Brillantine, nicht? Pomade. Pomadisiertes Haar. Gibt’s auch nicht mehr.«
    Er hatte alles aufgenommen, jetzt ohne Ton. Victor konnte nicht nur ausdruckslos schauen, er konnte auch unbeteiligt gehen, fast wie ein Roboter, und so war er vor ihm hergegangen, hinter dem Schloß entlang, als sei es die normalste Sache der Welt, daß ihm eine Kamera folgte. Er hatte diesen Film sehr lange nicht mehr gesehen, erinnerte sich aber an eine Einstellung mit Geranien, blutrot, hochstielig, an Stöcke gebunden, als hätte es sich hier nicht um alltägliche Blumen gehandelt, sondern um etwas ganz Seltenes, etwas Erdachtes, Requisiten für böse Träume. Victor bog in einen Seitenweg. An seinem Ende standen vor einer Art Tempel zwei Marmorbecken, halbkreisförmig umgeben von wildwuchernden hohen Rhododendronbüschen, das Violett schmerzte in den Augen. Der Tempel selbst war geschlossen. Bronzetüren, dorische Marmorsäulen, das Rauschen der hohen Bäume.
    »Dort liegt sie«, sagte Victor und zog eine Ansichtskarte hervor, ein Zaubertrick. Sie zeigte eine junge Frau. Arthur sah ihn an, doch auf Victors Gesicht war nichts zu lesen. War er nun einfach

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