Allerseelen
spürte er eine Kraft in seinem Körper, die sich dem widersetzte. Warum um Himmels willen hatte er hierherkommen wollen? Dies war ein Universum, mit dem er nichts zu schaffen hatte, und es strahlte mit großer Kraft aus.
Genauso ein Idiot wie ich, dachte er, als er vor dem Bild »Mönch am Meer« stand. Was tat der da in dieser gottverlassenen Landschaft? Büßen, jammern in Einsamkeit? Diese dünnen weißen Striche auf dem aufgewühlten düstergrünen Wasser, waren das Möwen? Schaumköpfe? Lichtreflexe? Der Mann hatte eine merkwürdige Krümmung in seinem Körper, er wollte dort offenbar ebensowenig sein wie der Mann, der ihn über einen Abgrund von zweihundert Jahren hinweg ansah. Was dachte einer, der so ein Bild malte? Der Dünensand war so weiß und fein, daß er wie Schnee wirkte, der Horizont ein gerader Strich, über dem eine Wolkenfront heranrückte, eine Barrikade, die jeden Gedanken an Entrinnen ausschloß. Und die Frau, die er hatte wiedersehen wollen, die in seiner Erinnerung leuchtende Gestalt, wie war sie denn bloß auf diesen Berggipfel gekommen? Das war nun wirklich im wahrsten Sinne des Wortes eine Exaltation. Die feinen Krakelüren hielten sie gefangen, ein Schmetterling in einem Netz. Ob jemand dieses Bild irgendwann einmal zerstören wollte, und sei es auch nur wegen des unerträglichen Mangels an Ironie? Anziehung, Abstoßung, es hatte unwiderruflich etwas mit der deutschen Seele zu tun, was immer das war. Das Schmachten Wilhelm Meisters, Zarathustra, der weinend am Hals eines Kutschpferdes endet, Friedrichs Bilder, Kleists Doppelselbstmord, Kiefers Blei und Strauß’ druidische Bocksgesänge, das alles schien miteinander zusammenzuhängen, ein düsteres Gewühle, in dem für Menschen aus einem Land mit Poldern kein Platz war. Worin bestand dann aber die Anziehungskraft? Auf dem nächsten Bild war eine verlassene Abtei in einem Eichenwald unter unheilvollem Himmel zu sehen.
»Du hast Wagner noch vergessen«, hatte Victor gesagt, als sie darüber sprachen. Victor fuhr, wenn irgend möglich, jedes Jahr nach Bayreuth.
»Kannst du dir das vorstellen, ein englischer Wagner? Ein niederländischer Nietzsche? Niederländer hätten nicht gewußt, wo sie hinschauen sollen. Benimm dich ganz normal, dann bist du schon verrückt genug.«
»Das gilt also auch für Hitler.«
»Genau. Der schrie zu laut und hatte so einen komischen Schnurrbart. So was gefällt den Nachbarn nicht. Wir haben eine Königin, die Fahrrad fährt. Bei Hitler konnte man nicht in die Wohnung schauen. Das mögen wir nicht. Wir wollen wissen, ob Frau Hitler schon Staub gesaugt hat. Genau, was du sagst, die Niederlande, ein Land ohne Berge. Oberflächlich, nicht wahr? Keine Berge, keine Höhlen. Nichts zu verbergen. Keine dunklen Flecken auf der Seele. Mondrian. Reine Farben, gerade Linien. Gräben, Deiche, Polderwege. Keine Abgründe, keine Grotten.«
»Manchmal ist es besser ohne.«
»Binsenweisheit. Und außerdem, das Düstere gehört auch dazu. Und es hat immer genug Gegengifte gegeben.«
»Nicht während der Weimarer Republik.«
»Kauen wir die Weltgeschichte jetzt noch mal durch? Erinnerst du dich, was Hein Donner 3 gesagt hat? Die Niederlande sollten Gott auf bloßen Knien danken, daß Deutschland willens war, sie in den Zweiten Weltkrieg hineinzuziehen – und sei es nur aus dem Grund, um uns endlich aus dem neunzehnten Jahrhundert herauszuholen. Und so heldenhaft, wie die Niederländer nach eigenem Bekunden waren, sind die meisten nun auch wieder nicht gewesen. Ich kann zwei Arten von Menschen nicht ausstehen: Niederländer, die glauben, weil sie sich vierhundert Jahre lang in einem fort gegenseitig widersprochen haben, hätten sie die Demokratie erfunden, und Deutsche, die ewig nur im Büßergewand herumrennen. Und falls du das jetzt fragen willst: Ja, es gibt Schuld. Aber nicht bei denen, die selbst nichts getan haben.«
»Wenn ich dich so höre, dann ist es ihnen im Grunde nur widerfahren?«
»Es ist uns allen nur widerfahren. Igitt, das wird ja ein richtiges Gespräch.«
»Und trotzdem wäre ein Voltaire oder ein Cervantes vielleicht ganz nützlich gewesen.«
Und damit waren sie wieder am Ausgangspunkt angelangt, der Ironie, beziehungsweise ihrem Fehlen. Zusammen mit den Juden war auch die Ironie aus Deutschland verschwunden. Danach waren sie wieder unter sich, so was gönnte man keinem. Ironie, Distanz, notwendige Luft, so ungefähr hatte der letzte Satz gelautet, und danach nur noch zwei Worte von
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