Allerseelen
sentimental, lachte er ihn aus, oder was? Er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Die Frau war hübsch, hatte zugleich aber etwas Törichtes. Ein locker fallendes weißes Gewand, das unter den großen sahnefarbenen Brüsten mit einer hellblauen Schleife zusammengeschnürt war. Victor hatte ihm die Karte so nachdrücklich hingehalten, daß er die Kamera auf den Boden gestellt hatte. Die Frau sah einen an, als wolle sie etwas von einem, soviel stand fest. Unter einem massiven edelsteinbesetzten Diadem sprangen kleine Löckchen hervor, das Sahnige von Brust und Hals hatte sich im Gesicht rosa getönt. Eine gerade Nase, zu kleine Ohren, die Lippen von einem satteren Rosa, leicht gekräuselt an den Mundwinkeln. Am seltsamsten waren jedoch die Augen. Das Blau korrespondierte mit den Edelsteinen im Diadem und mit der Farbe des Umhangs, der von ihr herabzugleiten schien, eine Einladung. Sie standen weit auseinander, diese Augen, groß, fast unbewimpert.
Er drehte die Karte um. Königin Luise von Preußen, 1804. Joseph Grassi. Was soll ich damit, dachte Arthur. »Hast du diese Karte immer bei dir?«
Er wußte noch nicht, daß dies Victors Art war, andere Menschen zu testen, zumindest wenn er sie der Mühe wert fand.
»Nein«, sagte Victor. »Ich war euretwegen hier. Und ich schaue immer kurz bei ihr vorbei, wenn ich hier bin. Ich habe Freundinnen auf der ganzen Welt. Sie freuen sich immer, wenn sie mich wiedersehen.«
Kein Zug in seinem Gesicht, der sich änderte.
»Diese Karte habe ich für dich gekauft. Ich bin nicht eifersüchtig. Das entspricht nicht meinem Charakter.« Arthur wußte noch immer nicht, wie er reagieren sollte.
»Man fragt sich, was von ihr übrig ist«, sagte Victor, während er auf den Grabtempel deutete. »Wird nicht besonders angenehm sein, denke ich. Wahrscheinlich eingetrocknet. Schade. Nichts bleibt. Aber stell dir vor, sie wäre nicht porträtiert worden, dann hätten wir sie nie gesehen.«
Arthur sah sich die Karte an und später, als sie hineingegangen waren, das Gemälde. Er mußte zugeben, irgendwas war mit ihr. Sie hatte nicht nur eine unverkennbar sexuelle Ausstrahlung, sondern es schien auch so, als wolle die Frau aus dem Bild heraus, als ertrage sie den Rahmen nicht. Und diese Schnalle auf ihrer Schulter war natürlich dazu da, sie zu lösen, genauso wie auch diese Schleife mit einer einzigen Bewegung hätte aufgezogen werden können. Die Suggestion, die von dem Bild ausging, besagte, daß die Frau das nicht schlimm fände. Aber vielleicht war das auch nur die Geilheit des Malers, der wußte, daß er sich auf die Geilheit des Betrachters verlassen konnte. Sie ließ einen nicht aus den Augen, das war das Leidige daran.
»Es ist noch nicht mal ein wirklich schönes Bild«, sagte Arthur.
Victor tat so, als habe er ihn nicht gehört. Sein Kopf war ganz nah an die Leinwand herangegangen. Nur in alten Filmen trugen Leute solche Frisuren, dachte Arthur. Fred Astaire. Cary Grant. Untadelig, war das Wort dafür. Dieses Haar konnte nicht in Unordnung geraten.
»Ein Lamm für die Schlachtbank. Solche Frauen gibt es nicht mehr. Ich kenne keine Frau mehr, die so schauen kann. Sehr verwirrend. Dieser Blick ist ausgestorben. Sieh mal. Die ganze Welt quengelt wegen irgendeines Salamanders, der auszusterben droht, aber von Attitüden spricht niemand. Um uns herum stirbt alles mögliche aus, darüber müßtest du, mit deiner Kamera, doch nachdenken.«
»Ich tue nichts anderes.«
Nein, das hatte er nicht gesagt. Damals noch nicht. Er hatte zugehört.
»Kannst du dir vorstellen, wie diese Frau gegangen ist?« sagte Victor. »Nein, das kannst du nicht. Sehr dumme Schauspielerinnen in einem historischen Stück, die versuchen es. Ich habe neulich erst etwas von Kleist gesehen. Kleider können nicht aussterben, die kann man bewahren oder nachmachen, das ist kein Problem. Aber die Bewegung in diesen Kleidern, die ist ausgestorben. Stoff fällt anders, wenn die Bewegung eine andere ist. Diese Frau hätte nie einen Bikini tragen können. Dafür hatte sie nicht den Gang, der war noch nicht erfunden.«
»Aber wer hat ihn denn erfunden?«
»Oh«, sagte Victor, »die Zeit. Oder der Kapitalismus, aber das ist dasselbe. Berufstätige Frau, Arbeitsprozeß, Autos, Jeans. Und kurze Hosen, Frauen wie kleine Jungen, sehr merkwürdig. Rauchen, Herzinfarkte. Dann stirbt das aus, so ein Augenaufschlag. Mußte vielleicht auch sein. Schau noch mal gut hin. Es ist ein hinterhältiges Bild.«
Er beugte sich vor, in
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