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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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vollgestellt worden war, um zu verhindern, daß Menschen mit einem Auto über die Grenze flüchteten. Männer mit Hunden patrouillierten über diesen Platz, uniformierte Männer, die man nicht mehr wiedererkennen konnte, da sie jetzt in normaler Kleidung in ebendieser Stadt herumliefen. Und auch mit diesem Gedanken konnte man niemanden mehr behelligen, wenn man davon anfing, legte sich ein Zug großer Langeweile auf alle Gesichter. Das wußte schließlich jeder. Jeder aß und trank seine tägliche Portion Terror, seine tägliche Portion unverdaulicher Vergangenheit. Es war Unsinn zu sagen, daß das Böse nun endgültig Einzug in die Welt gehalten hatte, das Böse war immer dagewesen, und nur, weil es jetzt so rettungslos mit Technik vermengt war, war es doch keine andere Art von Bösem geworden, oder? Doch so weit konnte er nicht mal denken. Worum es ihm bei seiner unbedeutenden Bilderjagd ging, war die Unmöglichkeit dessen, was er versuchte. Vor diesen Hunden und diesen Soldaten hatte es hier andere Soldaten gegeben, hier hatte der Mann, dessen Name länger überdauern würde als die Namen seiner Opfer, vor Jahren in einem Buch, das die ganze Welt hätte lesen können, seinen tödlichen Kreuzzug angekündigt, und hier hatte er bis zu seinem verächtlichen Tod wie ein Geist unter der Erde gelebt. Er selbst hatte diese vage, gewölbte Form noch gesehen, die Stelle, an der bis ganz zuletzt kleine Flugzeuge gelandet waren mit Botschaften aus der Hölle an den Tod und umgekehrt. Es gab auch noch Fotos aus jenen letzten Tagen, auf denen der Mann, der jetzt nur noch aus Krankheit bestand, den Kragen gegen die Winterkälte hochgeschlagen, eine Reihe von Jungen begrüßt, die nicht älter als vierzehn, fünfzehn sein konnten und die er in den Tod mitreißen sollte, eine Kinderarmee. Doch an diesem Podest war auch noch ein großes, auf eine Holzfaserplatte aufgezogenes Foto aus wieder einer anderen Vergangenheit angebracht gewesen, die jetzt, genau wie diese beiden späteren, unsichtbar unter dem Schnee begraben lag, eine Vergangenheit in Schwarzweiß, mit einem Platz, ebendiesem Platz, der im Licht glitzerte, so daß die rechteckigen schwarzen Autos wie aschfarbene Schachteln auf einem weißen Tischtuch glänzten. Straßenbahnen, schimmernde Schienen und dieses Allermerkwürdigste von allem: Menschen. Jedes Foto hält die Zeit an, aber ob es nun an der Technik lag oder an der Vergrößerung eines Bildes, das dafür nicht bestimmt war, hier sah es so aus, als sei es jemandem tatsächlich gelungen, ein Stück Zeit aus der Zeit zu schlagen, das so hart war wie Marmor. Die Sonne schien, und das mußte die gleiche Sonne sein wie immer, diese jedoch hatte ein Licht mit einer derartigen Strahlung verbreitet, daß alles darin festgefroren war. Da standen sie, zwischen ihren für alle Zeit festgefrorenen Autos, auf dem Weg zu einem Bürgersteig oder einer Straßenbahnhaltestelle. Niemand trug einen Stern, und an den Gesichtern ließen sich keine Täter oder Opfer erkennen, doch ausnahmslos befanden sich diese Festgefrorenen auf dem Weg zu ihrem Schicksal, sich der Schichten nicht bewußt, die sich noch im selben Jahrhundert, am selben Platz, an dem sie in diesem einen, nicht mehr ungeschehen zu machenden Augenblick standen, über ihr Bild legen würden, die der Paraden, die des tödlichen Spinnennetzes, die der improvisierten Scheiterhaufen und des Schlachtfelds, die der umzäunten Leere, der Wächter und der Hunde und schließlich die einer unter dickem Schnee begrabenen Baugrube, in der am Ende eines dämonischen Jahrhunderts dieselben und doch andere Mercedeslimousinen in Ausstellungsräumen prunken würden, für die die Zeichnungen bereits fertig waren. Hatte er nun wirklich versucht, in diesem Halbdunkel, zwischen Bauzäunen und Baggern, etwas zu erbeuten, das das Rätsel verkleinern würde?
    »Die Vergangenheit hat keine Atome«, hatte Arno gesagt, »und jedes Mahnmal ist eine Verfälschung, und jeder Name auf einem solchen Mahnmal erinnert nicht an eine Person, sondern an die Abwesenheit dieser Person. Die Botschaft lautet stets, daß man auf uns verzichten kann, und darin liegt das Paradoxe an Mahnmalen, denn die behaupten das Gegenteil. Namen stellen sich der wirklichen Wahrheit entgegen. Es wäre besser, wir hätten sie nicht.«
    Arthur hatte aus diesen Worten eine merkwürdige Art von Unheil herausgespürt, und wie so oft war er sich nicht sicher, ob er Arno richtig verstanden hatte. Arno besaß die Gabe des Wortes.

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