Allerseelen
Verglichen mit ihm, besaßen seine eigenen Gedanken zumeist die Geschwindigkeit eines Wurms. Nicht, daß er Redegewandtheit an sich mißtraut hätte, bei ihm dauerte einfach alles länger. Wenn man keinen Namen hatte, existierte man nur als Gattung, wie Ameisen oder Möwen.
»Igitt«, würde Victor sagen. Es wurde Zeit, seine Freunde aufzusuchen. Sie hatten sich in der Weinstube von jemandem verabredet, der Heinz Schultze hieß, nicht zu diesem Namen paßte, aber Gott sei Dank das entsprechende Essen servierte.
*
Es hatte wieder zu schneien begonnen, doch die Flocken waren jetzt aus einer anderen Wollart, zu schwer, um zu rieseln. Der Schnee sah aus wie eine sich bewegende Wand, die man beiseite schieben mußte. Er brachte seine Kamera zurück und hörte den Anrufbeantworter ab. Es war nur eine Nachricht darauf, und zwar von Erna. Die bekannte Stimme füllte das leere Zimmer, heiter und zugleich besorgt.
»Wo treibst du dich bloß rum? Bist du irgendwann auch mal zu Hause?«
An der Art und Weise, wie sie »zu Hause« aussprach, erkannte er, daß sie es eigentlich nicht hatte sagen wollen.
Es folgte ein leichtes Zögern und dann ein kurzes Lachen.
»Na ja, du hast hier Freunde, und die haben Telefon.«
Er wartete noch kurz, aber es kam nichts mehr. Erna. Er würde sie nicht löschen. Immer gut, noch eine Stimme zu haben, wenn man nachts nach Hause kam. Aber dieser Abend war bereits Nacht, gedämpft, ohne Verkehr, schwarz und weiß, still und in Bewegung zugleich. Noche transfigurada, er murmelte Schönbergs spanischen Titel wie einen Zauberspruch. Verklärte Nacht, aber transfigurada klang viel schöner, als wäre die Ordnung der Dinge umgekehrt worden und zugleich geheimnisvoller.
Es war nicht weit bis zum Adenauerplatz. Die Weinstube befand sich in einem häßlichen modernen Gebäude mit Rechtsanwälten und Zahnärzten, in dem man ein derartiges Etablissement nicht erwartet hätte. Man mußte zuerst einen kahlen Innenhof mit Garagen durchqueren und kam dann an einer Reihe vergitterter Mattglastüren vorbei, an denen die Schilder aller Praxen angebracht waren. Erst dann erblickte man in einer Ecke eine in dieser Umgebung possierlich wirkende rustikale Lampe, doch wenn man die Tür öffnete, stand man plötzlich in einem Pfälzer Dorf: ein niedriger dunkler Raum mit schweren Eichenmöbeln, spärliches gelbliches Licht, Kerzen, gedämpfte Stimmen, das Geräusch von Gläsern, die aneinandergestoßen wurden. Er klopfte sich den Schnee vom Mantel und ging hinein. Von weitem sah er, daß Arno und Victor bereits da waren. Sie hatten einen Stammplatz in der hintersten Ecke. Herr Schultze schien sich zu freuen, ihn zu sehen. »Sie haben sich wenigstens rausgetraut! Die Holländer sind tüchtige Leute, die sind nicht so zimperlich wie die Berliner.«
Arno Tieck war in Form, das war schon von weitem zu erkennen. Er besaß nicht nur die Gabe des Wortes, sondern auch die jener Tugend, die Arthur Daane Begeisterung nannte, und das hatte er ihm auch einmal gesagt. Arno hatte diese Worte wiederholt, die Gabe der Begeisterung, und Arthur hatte sich, und sei es nur deswegen, weil er sich an die Einzelheiten nicht erinnerte, nicht getraut, ihm zu sagen, daß sie aus einem Traum stammten, in dem sich alles in einem hohen und klaren Licht abgespielt hatte und in dem nach langem Streit schließlich jemand »auserkoren« wurde, weil er »die Gabe der Begeisterung« besaß.
Als er viel später Arno bei der Koproduktion eines kleinen Dokumentarfilms über das Sterbehaus von Nietzsche kennenlernte, was nun schon wieder einige Jahre zurücklag, war ihm sofort klar gewesen, daß der einzige, zu dem dieser Satz wirklich paßte, dieser merkwürdige Mann sein mußte, der fortwährend vor Geschichten, Anekdoten, Theorien überzuströmen schien. Das wenige, das Arthur Daane von Nietzsche gelesen hatte, war ihm in Erinnerung geblieben als eine Art Orkangeheul, mit dem eine sich überschlagende Stimme vom Gipfel eines Berges den namenlosen Knechten unten zuschrie, daß sie nichts taugten, um dann plötzlich in ein einsames und unverstandenes Gejammer überzugehen. Daß da viel mehr sein mußte, war ihm auch klar gewesen, doch die Tragik dieses inneren Widerspruchs war ihm im Grunde erst aufgegangen, als er, filmend und lauschend, Arno Tieck mit seiner Kamera durch die Flure und über die Treppen dieses verfallenen Hauses gefolgt war.
Arno war nicht leicht zu filmen gewesen. Er trug eine Brille, die so geschliffen war, daß sie möglichst
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