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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Hitlers Bunker befunden haben, hier in der Nähe auch die Folterkammern der Gestapo, doch darum ging es jetzt nicht, das war ja vielleicht noch greifbar genug, nein, es ging um das, was vor dieser Zeit und nach dieser Zeit hier gestanden hatte und jetzt zusammen damit verschwunden war und nie wieder zum Vorschein kommen würde, so tief man auch grub.
    Ein Auto näherte sich. Das Licht der grellen Scheinwerfer strich über all die merkwürdigen Formen der unter dem Schnee verborgenen Bulldozer und Bagger, über die kubistischen Flächen, die durch das maschinelle Graben entstanden waren. Es betonte die Tiefenunterschiede, tauchte die Schneewände für einen Moment in ein Fast-Schwarz und verwandelte sie dann plötzlich wieder in eine leuchtende Leinwand, es versetzte die totenstille, pulvrige Substanz in Bewegung, vermischte sich mit den hohen Lichtern, die von den stillstehenden Kränen herab das Gelände beschienen, wie um es zu bewachen. Erst als das Auto dicht vor ihm stand, sah er, daß es ein weißgrüner Dienstwagen der Polizei war. Sie hatten das blaue Blinklicht nicht eingeschaltet. Schade. Die beiden Polizisten drinnen schienen sich über etwas zu beraten. Die Frau argumentierte, und der Mann schüttelte den Kopf, während er gleichzeitig mit den Achseln zuckte.
    Die Frau stieg aus. Sie machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung des grünen Käppis, das sich nur mit Mühe auf dem lockigen blonden Haar zu halten schien.
    »Was machen Sie hier?«
    Es klang eher nach einem Vorwurf als nach einer Frage. Dies war die zweite uniformierte Frau, die heute zu ihm sprach. Er hob seine Kamera hoch.
    »Ja, das sehe ich auch«, sagte sie. »Aber Sie haben den Bauzaun geöffnet. Das ist verboten, ist groß draufgeschrieben. Und er ist abgeschlossen.«
    Das stimmte nicht ganz. Zwischen zwei Teilstücken der metallenen Umzäunung war eine schmale Öffnung gewesen – da hatte er sich hindurchgezwängt. Immer war alles verboten. Er sagte nichts.
    Es kam selten vor, daß weibliche Polizisten in nördlichen Ländern hübsch waren. Aber er durfte keine Scherze machen, auch mit dieser Frau nicht. Sie sah ihn an mit einem besorgten Ernst, der durch die Bühnenscheinwerfer ringsum noch gesteigert wurde. Dieses Paar hätte er gern gefilmt: namenloser, einäugiger Landstreicher mit der Bewacherin des Totenreichs. Es war sehr still, das leise Motorgeräusch ihres Autos machte es nur noch schlimmer. Der Mann in dem Auto rührte sich nicht, er schaute nur.
    »Es gibt doch fast kein Licht mehr.«
    Jetzt war es kein Vorwurf mehr, sondern eine Anklage. Sie sahen einander durch die metallenen Vierecke des Zauns an. Er hatte die Kamera nicht ausgeschaltet und filmte nun aus der Hüfte. Unsinn.
    »Für das, was ich will, gerade noch genug, hoffe ich.« Die Dunkelheit ist meine Spezialität, wollte er sagen, tat es aber nicht. Auch sie wollte noch etwas sagen, doch in dem Moment krächzte eine drängende Stimme aus ihrem Funksprechgerät, ein anderes, männliches Wesen, das im Bereich ihrer Brüste zu wohnen schien. Der Mann im Auto antwortete und rief sie gleichzeitig. Wie man einen Hund ruft, dachte Arthur.
    »Sie dürfen da nicht bleiben«, sagte sie noch, jetzt wieder mit ihrer eigenen Stimme, »bei den vielen Gruben ist das sehr gefährlich.«
    Sie rannte zum Auto und setzte zurück. Gleichzeitig sprang das blaue Blinklicht an. Sie rief noch etwas aus dem Auto heraus, aber was sie sagte, konnte er wegen des Sirenenlärms nicht mehr verstehen, und was dann folgte, ging so schnell, daß er es nur mit Mühe aufnehmen konnte. Sie gab so schnell Gas, daß das Auto sofort ins Trudeln geriet. Er sah, daß sie den Mund weit geöffnet hatte und so, mit aller Macht am Lenkrad kurbelnd, frontal gegen das mit einemmal riesengroße Ungetüm von Schneeräumgerät prallte, das in diesem Moment um die Ecke bog. Auch nach dem Aufprall schrie die Sirene noch eine kurze Zeit weiter. Erst als dieses Geräusch verstummte, hörte er ihr merkwürdiges leises Jammern. Er ging zu ihr hin. Sie war genau in die große dreieckige Metallspitze gefahren, die sich wie eine Waffe in ihr Auto gebohrt hatte. Durch den Aufprall war ihr die Mütze nun wirklich vom Kopf gerutscht und durch die zerborstene Frontscheibe auf der Motorhaube gelandet. Ihr Gesicht war voller Blut, das langsam in den Schnee tropfte. Ihr Kollege war ausgestiegen, und auch der Fahrer des Schneeräumgeräts war aus seinem hohen Turm geklettert.
    »Na so was«, sagte er. »Das war aber nicht

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