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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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viel Licht reflektierte, und Kontaktlinsen konnte er nicht tragen, weil er irgend etwas mit seinem linken Auge hatte, wodurch das Glas vor diesem Auge eher einer Augenklappe als einem Brillenglas glich, während das andere Auge geradezu furchterregend funkelte, ein asymmetrischer Zyklop. Dazu hatte er graues dickes Haar, das nach allen Seiten hin abstand, als wolle er aus dem Bildrahmen fliehen, und er bewegte sich in einem fort, wenn er sprach. Arthur hatte das Gefühl gehabt, nun zum erstenmal etwas von diesem geisteskrank gewordenen Philosophen begriffen zu haben, stärker noch, als müsse er die buchstäbliche Schwere dieses großen Kopfes mit diesem Gestrüpp von Schnurrbart selbst tragen, bis er sich endlich heulend an den Hals jenes Droschkenpferdes in Turin hängen und zum Haus seiner schrecklichen Schwester verbracht werden durfte, das nach all den Jahren der Vernachlässigung erbarmenswürdig aussah. Ein Elektriker wohnte darin, der hoffte, irgendwann einmal ein Museum daraus machen zu dürfen, doch der Philosoph der Macht und der Gewaltphantasien war in der Republik der totalitären Demokraten nicht populär, und folglich war aus dieser Hoffnung nichts geworden. Von dieser ersten Begegnung rührte ihre Freundschaft her. Es gab, hatte Arthur Daane gelernt, verschiedene Arten von Freundschaft, doch nur eine, die auf so etwas Altmodischem wie gegenseitiger Achtung basierte, war die Mühe wert.
    Erst nach dem Drehen und nachdem sie Stunden gemeinsam im Schneideraum verbracht hatten, hatte er Arno Tieck einige seiner Filme gezeigt. Dessen Kommentare hatten ihn überrascht, es war eines der seltenen Male, daß er jemanden traf, der wirklich verstand, wonach er suchte. Eigentlich mochte er es nicht, wenn er gelobt wurde, und sei es nur deswegen, weil er nie wußte, was er darauf entgegnen sollte; hinzu kam, daß Arnos Begeisterung ein zweischneidiges Schwert war: Während er einerseits einen Film als Ganzes in Wohlwollen und Wärme tauchte, nahm ein strengerer Doppelgänger offenbar eine glasklare, detaillierte Analyse vor. Erst danach hatte Arthur es gewagt, ihm von seinem anderen, geheimeren Projekt zu erzählen, all den über viele Jahre hinweg gefilmten Fragmenten, die auf den ersten Blick keine klare Linie aufwiesen und von denen einige so kurz wie das waren, was er an diesem Abend im Schnee aufgenommen hatte, andere länger, fast schon eintönig, Teile eines gigantischen Puzzles, bei dem er als einziger je wissen würde, wie es zusammenpassen könnte.
    »Wenn ich jemals glaube, daß es soweit ist, würdest du dann den Text dazu schreiben?« Und bevor der andere antworten konnte: »Du weißt, dafür wird sich kein Schwein interessieren.«
    Arno hatte ihn angeschaut und irgend etwas in der Richtung geantwortet, daß es ihm eine Ehre wäre, oder eine ähnliche Formulierung, ein Satz, der aus einem anderen und früheren oder verschwundenen Deutschland zu stammen schien, aus Arnos Mund aber völlig natürlich klang, genauso wie er auch sagen konnte: »Sei mir gegrüßt« oder auf eine atavistische Art und Weise mit einer rhetorischen Hingabe schimpfen konnte, die ebensowenig von dieser Zeit zu sein schien.
    Stundenlang hatten sie sich daraufhin die Sammlung angeschaut: Eislandschaften in Alaska, Candombléséancen aus São Salvador da Bahia, lange Reihen von Kriegsgefangenen, Kinder in Lagern, Söldner, griechische Mönche, Straßenszenen aus Amsterdam. Es schien weder Hand noch Fuß zu haben, doch das stimmte nicht, eine in Stücke gerissene Welt, vom Rand her aufgenommen, langsam, beschaulich, ohne Anekdote, Fragmente, die irgendwann als summa – dieses Wort stammte von Arno – ineinanderpassen würden. Plötzlich, bei Bildern von einem Kamelmarkt im südlichen Atlas, hatte sein neuer Freund die Hand gehoben zum Zeichen, daß Arthur den Film stoppen sollte.
    »Laß das noch mal zurücklaufen.«
    »Warum?« Aber er kannte die Antwort und fühlte sich ertappt.
    »Langsam, langsam. Dieser Schatten … irgend etwas Eigenartiges ist mit diesem Schatten auf dem Boden. Diese Einstellung ist eine Idee zu lang, aber ich habe das Gefühl, daß du es absichtlich gemacht hast.«
    »Stimmt.«
    »Aber warum?«
    »Weil es mein Schatten ist.«
    »Warum sehe ich dann deine Kamera nicht?«
    »Weil ich das nicht wollte. Das ist nicht so schwer.« Er machte es ihm vor. »Siehst du?«
    »Ja, aber warum? Stimmt es, daß ich so was schon mal gesehen habe?«
    »Ja. Aber nicht, weil ich eitel wäre.«
    »Nein, das verstehe ich. Aber

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