Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
so bist du drin und gleichzeitig nicht drin.«
    »Genauso wollte ich es. Vielleicht ist das kindisch. Es hat etwas zu tun mit …« Er suchte nach Worten. Wie drückte man so etwas bloß aus? Ein Zeichen, Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit. Ein Schatten, der keinen Namen haben durfte, den niemand oder so gut wie niemand jemals bemerken würde – mit Ausnahme dieses Mannes.
    »Es hat etwas mit Anonymität zu tun.«
    Er mochte solche Worte nicht. Abstraktionen waren, wenn man sie aussprach, immer zu groß.
    »Aber der Film wird doch unter deinem Namen laufen, oder?«
    »Das weiß ich, aber darum geht es nicht … Es geht darum, daß …«
    Er konnte es nicht formulieren. Ein Schemen in einer Schaufensterscheibe, ein Fußstapfen im Schnee, für einen Moment festgehalten, eine sich bewegende Blume oder ein kleiner Zweig, gegen den jemand gepustet hat, der unsichtbar blieb, Spuren …
    »Eine unsichtbare Signatur. Aber das ist ein Paradox …«
    »Du hast sie bemerkt. Oder etwa nicht?«
    »Möchtest du noch dasein, wenn du nicht mehr da bist?«
    Das war zuviel des Guten. Es kam dem gleich, war es aber nicht.
    Wenn niemand es wußte oder bemerkte, würde er ja gerade nicht mehr dasein. Ein Teil all dieses Verschwundenen. Aber man konnte doch schwerlich sagen, daß man sich dem Verschwindenden hinzugesellen wollte, wenn man gerade damit beschäftigt war, eine Sammlung anzulegen, um es zu bewahren?
    Was er Arno bei diesem ersten Mal gezeigt hatte, waren nur die am leichtesten erkennbaren Bilder. In ihnen konnte man, so man wollte, noch einen unmittelbaren Sinn erkennen. Die anderen, anonymeren Aufnahmen – schwimmende Wasserpflanzen, ein ausgelaugtes Feld mit Disteln, eine Sturmbö, die eine Pappelreihe peitschte, hastig mit der Flutlinie mittrippelnde Strandläufer – hatte er noch nicht gezeigt. Aber es gehörte alles dazu. Vielleicht, dachte er, bin ich einfach nicht recht bei Trost. Er ging auf den Tisch zu.
    Das Gespräch zwischen Victor und Arno war von ganz anderer Art, soviel war klar, denn es ging um Wurst. Arno hatte hier seine eigenen Kategorien aufgestellt, vorläufige oder endgültige Wurst, darum ging es. Doch Arthur war noch nicht soweit, es war, dachte er, als gehe bei ihm immer alles langsamer. Eine Begrüßung war doch das Natürlichste überhaupt, warum mußte darüber doch wieder nachgedacht werden? Alle anderen schienen sich in einer schnelleren Welt aufzuhalten als er, einer Welt, in der Arno die Arme ausbreitete, um ihn ans Herz zu drücken, während Victors Zurückhaltung, der Kokon, den er immer um sich hatte, ihm nicht mehr als eine formelle Registrierung seiner Ankunft erlaubte. Früher mußten Menschen sich gegenseitig so begrüßt haben wie Arno, früher, wenn ein Dichter oder ein Philosoph von Weimar nach Tübingen reiste, um einen Freund zu besuchen. Zeitaufwand, Entfernung und Beschwerlichkeit flossen in solche Begrüßungen ein, bestimmten die Intensität der Freude auf den Gesichtern gemäß der gleichen Rechnung, nach der Zeit und Entfernung in den Briefen aus jenen Tagen sichtbar geblieben waren. Deshalb konnte man mit Arno auch nicht telefonieren: Sein rhetorisches Talent, das in Briefen oder in körperlicher Nähe aufblühte, welkte in der gefälschten Nähe, die ein Telefongespräch ist, genauso wie die praktische Gleichzeitigkeit von Fax und E-Mail ihm den Glanz von Entfernung und verstrichener Zeit nehmen würde.
    »Das hat etwas mit der Rätselhaftigkeit der Sache an sich zu tun, dem Geheimnisvollen des Briefs, des Gegenstands, des Fetischs.«
    So hatte Arnos Antwort gelautet, als er das einmal zur Sprache gebracht hatte, und wie gewöhnlich hatte er ihn nicht gleich verstanden.
    »Wie meinst du das?«
    Aber eigentlich kannte er die Antwort bereits, während er fragte. Er selbst tat sich schwer beim Briefeschreiben, und schon gar auf deutsch, doch für Arno hatte er seine Bedenken über Bord geworfen, die Fehler mußte sein Freund eben mit in Kauf nehmen. Schließlich war es pure Willkür, daß Deutsche Dinge als weiblich bezeichneten, die im Spanischen männlich waren, während das Niederländische seine Hände in Unschuld wusch und wegschaute, anders als das Englische, das der Sonne, dem Tod und dem Meer radikal jegliche Geschlechtlichkeit verweigerte, allerdings viel scheinheiliger, indem es nämlich das Geschlecht hinter oder unter einem einheitlichen Artikel verbarg, so daß nur ein Spezialist oder ein Wörterbuch noch sagen konnte, ob sich hinter einem bestimmten Wort ein Mann

Weitere Kostenlose Bücher