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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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meine Schuld. Ich kann doch überhaupt nicht manövrieren.« Arthur nahm die Mütze von der Motorhaube und hielt sie in den Händen. Die Frau wimmerte leise.
    »Kann ich helfen?« fragte er die beiden Männer. Der Polizist sah ihn an und dann auf die Kamera, als sei die an allem schuld.
    »Nein, gehen Sie. Und nicht filmen!«
    Aber mittlerweile war es sogar für ihn zu dunkel geworden. In der Ferne hörte er einen Rettungswagen. Drei verschiedene Warnblinkleuchten. Und auch noch Musik. Die Stadt war ein Kunstwerk, und er war ein Teil davon. Aus der Ferne sah er, wie sie auf eine Trage gelegt und in den Rettungswagen geschoben wurde. Der Polizeiwagen konnte noch fahren. Die beiden Männer tauschten Angaben aus. Er war der einzige Zeuge, aber ihn brauchten sie nicht.
    Danach fuhren sie beide weg. Sehr still war es plötzlich. Der spärliche Verkehr am Brandenburger Tor klang wie ein leises, dunkles Rauschen, das Bandgeräusch, kurz bevor die Musik einsetzt.
    »Es gibt doch fast kein Licht mehr«, hatte sie gesagt. Eben hatten sie dort noch gestanden, gesprochen. Natürlich hatte sie nicht begriffen, was er dort filmen wollte. Doch es war gerade dieser nun schon wieder verschwundene Augenblick, der damit etwas zu tun hatte. Es ging ihm um etwas, das er nicht in Worte fassen konnte, schon gar nicht anderen gegenüber, etwas, das er für sich die Ungerührtheit der Welt nannte, das spurlose Verschwinden von Erinnerungen, das dazugehörte. Das Rätselhafte dabei war, daß es allenthalben geleugnet wurde. Noch nie, so schien es, war so viel gemetzelt, gemordet, ausgerottet worden wie in diesem Jahrhundert. Man brauchte auch mit niemandem darüber zu sprechen, es war jedem bekannt. Vielleicht aber waren die Anschläge, die Genickschüsse, die Vergewaltigungen und Enthauptungen, das Abschlachten Zehntausender noch nicht einmal das Schlimmste – am schlimmsten war das Vergessen, das fast unmittelbar danach einsetzte, die Tagesordnung, als spielte es angesichts einer Bevölkerung von sieben Milliarden keine Rolle mehr, als käme – und das beschäftigte ihn dabei am meisten – die Gattung eigentlich bereits ohne Namen aus und wäre nur noch darauf erpicht, als Gattung blind zu überleben. Eine Frau, die in Madrid gerade in dem Moment vorbeikam, als die Bombe explodierte, die sieben Trappisten in Algier, denen man die Kehle durchgeschnitten hatte, die zwanzig Jungen in Kolumbien, die vor den Augen ihrer Eltern niedergeschossen worden waren, die Macheten, die in fünf Minuten orgiastischer Gewalt bei Johannesburg einen ganzen Zug mit Pendlern in Stücke gehackt hatten, die zweihundert Passagiere des Flugzeugs, das über dem Meer durch eine Bombe explodiert war, die zwei- oder drei- oder sechstausend Jungen und Männer, die in Srebrenica ermordet worden waren, die Hunderttausende von Frauen und Kindern in Ruanda, Burundi, Liberia, Angola. Kurzfristig, einen Tag, eine Woche lang waren sie in den Nachrichten, sekundenlang liefen sie durch alle Kabel dieser Welt, doch danach begann es erst, die schwarze, alles auslöschende Dunkelheit eines Vergessens, das fortan nur noch weiter zunähme. Sie würden keinen Namen mehr haben, diese Toten, sie würden ausgewischt sein in der Leere des Bösen, jeder im gesonderten Augenblick seines oder ihres grauenhaften Todes. Er erinnerte sich an Bilder, die er in der letzten Zeit gesehen hatte: immer wieder die menschliche Form, auf diese oder jene Weise unbrauchbar geworden, zerlegt, von sich selbst getrennt, Skelette, deren Handgelenke noch mit Draht zusammengebunden waren, ein halbes Kind, übersät mit Fliegen, die man sogar auf dem Foto sich noch bewegen sah, der Kopf eines russischen Soldaten zwischen allem übrigen Müll auf dem Bürgersteig in Grosny, das ölige Wasser des Meeres, in dem Leichen, Schuhe, Koffer schwammen. Bei diesen letzten Bildern hatte plötzlich ein Haken einen BH aus dem Wasser gefischt, ein winziges Kleidungsstück, das noch am Morgen ebendieses Tages, an dem es der ganzen Welt gezeigt werden würde, von einer Frau angezogen oder eingepackt worden war, jemandem, dessen Name bereits für immer verschwunden war, auch wenn er zwischen all den anderen Namen in der Zeitung gestanden hatte.
    Und so war es auch hier, auf diesem Platz. Früher hatte es am westlichen Rand ein Podest gegeben, von dem aus man über den Platz in den Osten schauen konnte, eine weite leere Fläche, die wie bei einem frühen Mondrian in geometrischem Gleichmaß mit metallenen Hindernissen

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