Allerseelen
geworden, samt allen Nuancen von Grau, die dazugehörten, inklusive die der Fast-Unsichtbarkeit. Am schönsten war es, dachte er, wenn dieses Grau die Farben des Films hatte, den geheimnisvollen Glanz von Zelluloid. Dunkel, das langsam aus der Erde hervorzukriechen oder wieder in ihr zu verschwinden schien, und in diesem Dunkel alle Formen von Licht, die möglich waren, das der verschwindenden oder aufgehenden Sonne, vor allem wenn sie selbst nicht oder noch nicht oder nicht mehr zu sehen war, weil es erst dann spannend wurde. Scheinwerfer, das leuchtende Auge von Kränen über einer Baugrube, Neon in einer verlassenen Straße, orangefarbene oder eisblaue Blinklichter, die, wenn man sie schwarzweiß filmte, ihren jeweils eigenen Tonwert behielten, die Leuchtspur fahrender Züge oder langsamer Autoschlangen, immer wieder der unaussprechliche Reiz von Licht im Dunkel.
Wenn man ihn fragte, was er denn eigentlich mit all den Metern Film vorhabe, wußte er keine rechte Antwort, jedenfalls keine, die er aussprechen wollte. Nein, es gehöre zu nichts. Nein, es sei kein Teil eines bestimmten Projekts, es sei denn, man wolle sein ganzes Leben als Projekt bezeichnen. Er filme, wie ein Schriftsteller sich etwas notiere, vielleicht könne man es damit vergleichen. Jedenfalls mache er es für sich selbst. Ja, aber was habe er dann damit vor? Nichts, oder vorläufig nichts. Aufbewahren, das auf jeden Fall. Vielleicht würde es irgendwann einmal in etwas hineinpassen. Vielleicht auch nur, um zu üben, genauso wie irgendein chinesischer oder japanischer Meister jeden Tag einen Löwen gezeichnet hatte, um irgendwann einmal, so jedenfalls ging die Geschichte, am Ende seines Lebens den vollendeten Löwen zu zeichnen. Irgendwann würde er in der Lage sein, Dämmerlicht zu filmen wie kein zweiter. Und noch ein Element komme hinzu, das der Jagd. Jagen, sammeln, wie er es bei den Aborigines in Australien beobachtet hatte: nach Hause kommen mit irgendwas, so einfach war das. Seine Sammlung, so hieß dieser Stapel von Dosen, die in Madrid, in Amsterdam und hier in Berlin lagerten.
Er faltete die Zeitung zusammen und ging mit dieser Papierfahne am Stock durch das Lokal. Er wußte, daß er ihr diese Flagge doch nicht gebracht hätte, war aber erleichtert und enttäuscht zugleich, daß sie nicht mehr dasaß. Jetzt mußte er sich beeilen. Er liebte die Dunkelheit zwar, doch die Dunkelheit schenkte ihm nichts, sie wollte nie warten. Er stieg am Nollendorfplatz in die U-Bahn ein und an der Deutschen Oper wieder aus. Sein Zimmer lag in der Sesenheimer Straße, in der Nähe der Oper, eine Nebenstraße der Goethestraße. In seiner Straße standen ein paar türkische Jungen frierend und verwaist auf dem Spielplatz herum, wo im Sommer Mütter mit ihren Kindern saßen.
Er rannte die Treppen zu seinem Zimmer hinauf, schnappte sich die Kamera, ging wieder. Eine halbe Stunde später kam er am Potsdamer Platz aus der U-Bahn herauf. Hierhin hatte Victor ihn nach ihrer ersten Begegnung mitgenommen, hier hatte er seine ersten Berlin-Lektionen erhalten. Niemand, der diese Stadt geteilt erlebt hatte, würde jemals vergessen können, wie das gewesen war. Nicht vergessen, nicht beschreiben, nicht wirklich wiedergeben. Doch jetzt war er hier allein, auf der Jagd, bloß wonach? Nach etwas, das er damals, irgendwann gesehen hatte und nie wieder sehen würde. Oder vielleicht doch nach dem, was davor hier gewesen war, was er nur von Fotos kannte? Er wußte, was er sehen würde, wenn der Schnee hier nicht läge, eine nach allen Seiten hin aufgewühlte Erde, in der Arbeiter mit gelben Helmen in der Tiefe herumwühlten, als suchten sie die Vergangenheit persönlich. Bulldozer, die sich wie Science-fiction-Maschinen ruckartig hin und her bewegten, Grab-, Scharr- und Bohrgeräusche. »Als ob sie ein Massengrab freilegen.« Das war Erna. Sie hatte er gleich dorthin mitgenommen, als sie ihn besuchte. Es gehörte zur Wallfahrt. Es hatte tatsächlich so ausgesehen, nur würden sie hier keine Leichen finden. Und trotzdem, dieses Graben und Wühlen, diese Maschinen, die mit breiten Eisengabeln im harten Boden herumkratzten – der Gedanke, daß sie etwas suchten, drängte sich auf, etwas, das nur die nie wieder aufspürbare Vergangenheit sein konnte, als müßte sie sich dort tatsächlich als Substanz befinden, etwas, das man anfassen, vorsichtig freilegen konnte, als sei es nicht möglich, daß so viel Vergangenheit nur wie Erde, Boden, Staub aussah. Hier irgendwo mußte sich
Weitere Kostenlose Bücher