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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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jetzt also wieder sagen.
    »Und meins«, sagte Arno. »Wir sind eine konservative Nation. Wir liefern uns nicht mir nichts, dir nichts der neuen Zeit aus, in der alles unerkennbar sein muß, um gegessen zu werden. Wir kommunizieren noch direkt mit der Tierwelt. Du ißt genau das, was ich esse …«
    »Bäh«, sagte Victor.
    »… aber du willst es nicht wissen. Ihr seid scheinheilige Esser. In deiner Frankfurter steckt ein komplettes feingemahlenes Schwein samt Augen, Magen, Därmen, Lungen, Mehl und Wasser, aber einer ehrlichen Begegnung mit Schwester Sau gehst du aus dem Weg. Ich habe dich erst vor kurzem über irgend so ein Vögelchen mit einem in die Höhe stehenden roten Schopf jammern hören, das in Venezuela im Aussterben begriffen war. Aber daß ein Gericht, das bereits seit dem frühen Mittelalter im Schwabenland zubereitet wird, gegen ein gemahlenes Stück Kuhhintern eingetauscht wird, das von Los Angeles bis Sydney absolut gleich schmecken muß, das läßt dich kalt.«
    »Wem sagst du das eigentlich?« fragte Arthur, »uns brauchst du nicht zu überzeugen. Im übrigen sind das Victors Argumente, mit denen du uns hier kommst.«
    Arno machte ein fassungsloses Gesicht, wie immer, wenn er in seinem Redefluß gestoppt wurde, und sagte dann: »Aber es war doch gar nicht persönlich gemeint. Ich finde es nur so schrecklich … die können es nicht erwarten, bis die ganze Welt das gleiche ißt, und im übrigen nicht nur ißt, denn das gehört alles zusammen. Das gleiche essen, das gleiche hören, das gleiche sehen und dann natürlich auch das gleiche denken, sofern man dann noch von Denken sprechen kann. Ende der Vielfalt. Dann machen wir hier draus einen Hamburgerladen.«
    Er deutete mit dramatischer Geste um sich. Im schummrigen Licht saßen kleine Grüppchen, die wie sie der Kälte und dem Schnee getrotzt hatten. Der Sohn von Herrn Schultze ging mit großen Gläsern honigfarbenem Wein herum, aus der kleinen Küche kamen altmodische Essensgerüche, die unter der niedrigen dunklen Decke hängenblieben. Leises Stimmengewirr, Gebärden im Kerzenlicht, Gespräche, deren Inhalt er nie erfahren würde, Worte, die verschwanden, sobald sie gesagt waren, Teile des nie endenden Gesprächs, das über die Erde irrt, ein allerkleinster Teil der Milliarden Worte, die an einem Tag ausgesprochen werden. Das mußte der Traum des alles verarbeitenden Tonmanns sein: ein Mikrophon, so groß wie das All, das diese Worte alle auffangen und bewahren könnte, als ob dadurch etwas klar würde, etwas, das die Monotonie, die Wiederholung und zugleich die unvorstellbare Vielfalt des Lebens auf der Erde in einer Formel zusammenfassen könnte. Aber diese Formel gab es nicht.
    »Was meinst du denn mit Vielfalt?« fragte Arthur.
    »Alles, was in Gesprächen vorkommt oder vorkommen kann.«
    »Dann brauchst du nur unsere eigenen Gespräche mit tausend zu multiplizieren.«
    »Nein, das ist es nicht. Ich meine Geilheit, Religionswahn, das Planen eines Mordes, Angst, menschliche Extremsituationen, in Worten ausgedrückt. Alles … was unhaltbar ist. Und geheim.«
    »Und dann kann nur die Monotonie uns retten?«
    »Könnte man sagen.«
    »Und was ist die Monotonie? Unsere Gespräche?«
    »Die Wiederholung. ›Wie geht es Ihnen?‹ ›Hast du die Kühe schon gemolken?‹ ›Mein Auto geht nicht.‹ ›Wann fängt die Sprechstunde an?‹ ›Der Präsident hat angekündigt, daß die Steuern in diesem Jahr nicht erhöht werden.‹ Die Vielfalt darfst du selbst hineinbringen.«
    »Wenn du mich nicht machen läßt, dann schneid ich dir die Kehle durch.«
    »Siehst du, es geht doch. Alles ganz alltägliche Wörter. Man hört sie in der Realität nur nicht so oft.«
    »Lad diese Arschlöcher in ein paar Busse und knall sie irgendwo ab. Und die Leute, die du dazu anheuerst, gleich hinterher. Ungelöschten Kalk drüber, und so weiter …«
    »Geht dir locker von der Zunge.«
    »Ich bin ein Kind meiner Zeit. Wir können uns jeden Dialog vorstellen. Den der Grabschänder, der Kinderschänder, der Selbstmordterroristen … die anderen Dialoge sind viel schwieriger.«
    »Wieso? Warum?«
    »Weil sie so langweilig sind. Die endlose, zähe, träge, rettende Normalität. ›Haben Sie gut geschlafen?‹ ›In sechs Monaten wird Ihnen die erste Rente ausbezahlt.‹«
    »Könnt ihr mal aufhören?« sagte Victor auf deutsch.
    »Wird’s noch was mit dem Bestellen? Schultze ist schon traurig weggegangen. Er wollte gerade mit seinem Vortrag anfangen. Und ihr kakelt hier

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