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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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nur rum.«
    »Nicht ganz«, sagte Arno. »Und warum hast du’s so eilig?«
    »Ich bin ein Einmannkloster, ich hab meine festen Zeiten. Stein wartet nicht.«
    *
    Stein wartet nicht. Meist war ein Besuch in Victors Atelier Arthurs erster Gang, wenn er wieder in Berlin war. Ein hoher weißer Raum in einem Gartenhaus in der Heerstraße, mit großen Glasöffnungen im Dach. Ein Bett, ein Stuhl für den Besuch, ein hoher Hocker, stets in mehreren Metern Entfernung von dem, woran Victor gerade arbeitete, eine Stereoanlage, ein Flügel, auf dem er jeden Tag ein paar Stunden spielte. Er wohnte in Kreuzberg, allein. Über seine Arbeit mochte er nie sprechen. »Nach so etwas fragt man nicht.«
    Doch er hatte nichts dagegen, wenn Arthur in sein Atelier kam. »Aber du weißt, claustrum, Worte sind erlaubt, Geschichten nicht.« Filmen durfte er. Wenn Victor arbeitete oder wenn er auf seinem Flügel spielte, schien er einen nicht zu bemerken.
    »Was für eine Musik war das?«
    »Schostakowitsch. Sonaten und Präludien.«
    »Es klang wie eine Meditation.« Keine Antwort.
    Das Ding, an dem Victor arbeitete, stand mitten im Raum, ein schwerer Steinbrocken von einem Rot, wie er es noch nie gesehen hatte. Ding durfte man natürlich nicht sagen, aber was sonst?
    »Kunstwerk«, höhnte Victor.
    »Was für ein Stein ist das?«
    »Finnischer Granit.«
    Er saß auf seinem Stuhl in der Ecke und sah, wie Victor seinen Hocker ständig irgendwo anders hinstellte und auf dieses Stück Stein lauerte. Das konnte Stunden oder Tage dauern, doch irgendwann würde das Hauen, viel später das Schleifen und Kerben beginnen, bis der Granit keine Ähnlichkeit mehr mit sich selbst, seine ursprüngliche Form verloren hätte. Doch dann wäre auch eine paradoxe Verwandlung vor sich gegangen, für die Arthur noch keine Worte gefunden hatte.
    »Alles muß viel geheimnisvoller und viel gefährlicher werden«, war das einzige, was Victor, und dann noch nicht mal über seine eigene Arbeit, gesagt hatte.
    Das mußte es sein, denn obwohl der Stein kleiner geworden war, wirkte er größer, und trotz der Tatsache, daß er jetzt raffinierter und polierter war, strahlte er plötzlich eine verhaltene Macht aus, deren Rätsel vielleicht durch die Runen, die der Bildhauer hineingeritzt hatte, erklärt wurde, doch wer konnte das lesen? Das Hauen und Meißeln, Abschleifen und Polieren, all diese Geräusche hatte Arthur schon einmal aufgenommen, nicht, um sie unter den gleichzeitigen Prozeß, sondern vielmehr unter völlig andere, viel leisere Bilder zu legen, bei denen die Skulptur bereits fertig war und das Geräusch somit ein Anachronismus. Bei diesen Aufnahmen war er mit seiner Kamera genauso um die Skulptur herumgeschlichen, wie er es bei Victor gesehen hatte. Nie hatte der ihn gefragt, ob er die Aufnahmen für irgend etwas verwenden würde.
    Stein wartet nicht. Sie riefen Herrn Schultze, entschuldigten sich.
    »Ich liebe es, wenn die Herren diskutieren«, sagte Schultze, »die meisten Gäste sprechen nur Luft.«
    Nun kam der Moment des Vortrags. Die für niederländische Ohren ohnehin schon eigenartigen Gerichte erhielten durch die Diktion des Gastgebers – eine verwirrende Mischung unerwarteter Tonlagen und Betonungen, als wolle er absichtlich gegen seine eigene Sprache anskandieren – eine noch exotischere Wirkung. Er wußte, daß sie seine Vorführung liebten, und überzog sie daher noch zusätzlich, um die Schwere der Gerichte durch seine Ironie zu mildern, bis Eisbein und Wellfleisch und Schweinshaxe eher wie Ankündigungen eines Balletts klangen denn wie gebratene und geschmorte tierische Überreste, mit denen sich die Germanen, so schien es, seit Varus in ihren finsteren Wäldern ernährt hatten, die im übrigen auch immer noch standen. Arno nahm Saumagen, Victor eine Maultaschensuppe, Arthur die frische Blut- und Leberwurst. Vor langer Zeit hatte er zwei ehemalige Lagerinsassen nach Dachau begleitet, wo eine Gedenkfeier stattfinden sollte. Damals hatte er zum erstenmal Blut- und Leberwurst gegessen.
    »Wir werden dir jetzt mal beibringen, wie man deutsch ißt.«
    Eine unbegreifliche Nostalgie hatte sich der beiden alten Männer bemächtigt, Greuelgeschichten wurden erzählt, als wären es fröhliche Jugenderinnerungen. »Und wenn man nach so einem Wettkampf dann in seine Baracke ging, blieben immer ein paar liegen.«
    Und Lieder waren im Auto erschallt, Widerstandslieder, kommunistische Lieder, das Horst-Wessel-Lied und Schlimmeres, die bösesten,

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