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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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oder eine Frau verbarg.
    »Findest du das nicht verrückt?« hatte er Arno gefragt.
    »Was?«
    »Daß eure Wörter zu Transsexuellen werden, sobald sie den Rhein überqueren? Der Mond wird bei Straßburg zu einer Frau, die Zeit zu einem Mann, der Tod zu einer Frau, die Sonne zu einem Mann … und so weiter.«
    »Und im Niederländischen?«
    »Bei uns hat man die Geschlechter unsichtbar gemacht, die Wörter tragen einen unisexuellen Artikel, mit Ausnahme der Neutra. Bei uns weiß keiner mehr, ob die See ein Mann oder eine Frau ist.«
    Arno schüttelte sich bei dem Gedanken.
    »Damit versperrt man den Weg zum Ursprung. Heine hatte unrecht. Bei euch passiert alles fünfzig Jahre früher. Aber schreib mir ruhig, ich höre deine Stimme schon durch.«
    Und so hatten sie korrespondiert. Und natürlich war es das, was Arno mit dem Geheimnisvollen von Briefen meinte. Man schrieb – keiner von ihnen würde je seinen Computer dafür benutzen – mit der Hand, als werde dadurch das Unersetzliche des Geschriebenen betont. Die Gedanken flossen mit der Tinte mit, wurden nicht durch die Form eines maschinell produzierten Buchstabens vergegenständlicht. Falten, Umschlag, Briefmarke, lecken, versiegeln, einwerfen. Letzteres machte er immer selbst. In manchen Ländern konnte man seinen Brief noch durch einen Löwenkopf in den Kasten werfen. Das Maul war dann etwas albern aufgesperrt, zahnlos, die Lippen von einem helleren Bronze- oder Messington durch die Millionen von Briefen, die durch sie hineingeschoben worden waren. Danach war, hatten sie gemeinsam festgestellt, ein Brief lange Zeit auf wundersame Weise allein. Der Löwe hatte ihn, würde ihn aber nicht behalten. Er war aus einer Hand geglitten, nun würde es Tage dauern, ehe die andere Hand, die des Freundes, ihn berühren würde. All die anderen Hände, die ihn angefaßt, gestempelt, sortiert, zugestellt hatten, würden sie nicht kennen, es sei denn, sie träfen den Postboten (Arno: »Alle Postboten sind Hermeserscheinungen«) vor der Haustür.
    Jetzt wurde von ihm erwartet, sich an einem Gespräch über Wurst zu beteiligen. Vorläufige Wurst war Arno zufolge, was bei Herrn Schultze »frische Blut- und Leberwurst« hieß, auf beiden Seiten geschlossene Kondome, bis zum Platzen gefüllt mit einer feuchten grauen beziehungsweise schwarzvioletten lockeren Masse. Stach man mit dem Messer hinein, war es, als pieke man in einen Schlauch, unter leichtem Zischen entwich ein wenig nach Leber oder nach Blut riechende Luft, und der weiche Brei begann herauszuquellen.
    »Ich trinke mein Blut lieber aus einem Kelch«, sagte Victor. Und zu Arno: »Hast du schon mal darüber nachgedacht, warum ihr das eßt? Ich meine, was du als vorläufige Wurst bezeichnest, die noch nicht erstarrte Variante? Die kannst du schlürfen, und damit bist du doch sehr in die Nähe der Vampire gerückt. Blutrünstig seid ihr, gib’s nur zu. Dann kannst du doch gleich deine Zähne in ein Schwein schlagen, oder? Wie war das doch wieder, le cru et le cuit, roh oder gekocht, Lévi-Strauss, das ist doch der entscheidende Unterschied? Die Franzosen kochen das Blut noch eine Weile weiter, erst dann lassen sie es gerinnen, kalt werden, und dann hast du deine endgültige Wurst, boudin. Das bedeutet im übrigen Pudding, ist dir das schon mal aufgegangen? Blutpudding. Und bei der Leber ist es genauso schlimm. Eine Art schleimiger, schlaffer Brei, der auf dem Teller zerfließt. Weißt du eigentlich, wie wunderbar so ein Leberchen in einem Schwein verpackt ist? Schweine sind sehr kompakte Dinger, es gibt kein Tier, das vom Äußeren her schon so schlachtreif ist. Schinken, Haxe, Bauchspeck, diese knuddeligen großen Ohren, die du nur noch zu panieren brauchst …«
    In diesem Augenblick wurde er von Herrn Schultze unterbrochen.
    »Die Herren haben sich durch das Schneegestöber gewagt. Das wissen wir zu schätzen. So lernt man seine wahren Gäste kennen. Darum biete ich den Herren einen schönen, von mir nicht näher zu beschreibenden Grauburgunder an, in dem soviel südliche Sonne eingelagert ist, daß Sie den Schnee für eine Weile vergessen werden.«
    Er verbeugte sich. Jetzt kam, wußte Arthur, das Aufsagen der Gerichte. Daraus hatte Herr Schultze ein kleines Theaterstück gemacht, das mit Ironie aufgeführt wurde. Arno richtete sein eines, funkelndes Auge auf ihren Gastgeber und fragte: »Haben Sie heute abend Saumagen?«
    Saumagen, hatte Victor einmal bemerkt, war das Lieblingsgericht des Bundeskanzlers. Das mußte er

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