Allerseelen
unter den Füßen anderer liegen werden. Hegels Schuld …«
»Wieso Hegel?«
»Weil der glaubte, wir hätten das Ziel so ungefähr erreicht. Und das läßt sich nicht mehr ausrotten. Wir können uns nie soviel Zukunft vorstellen, wie wir an Vergangenheit haben. Schaut euch mal diese Zeichnung an … alles natürlich liebevoll gemacht, aber trotzdem spricht Geringschätzung daraus. So im Sinne von: Das kann uns nie passieren. Uns brauchen sie nicht auszugraben. Unsere Kleider können nie so lächerlich werden wie ein Bärenfell. Niemand möchte sich die Zukunft als etwas vorstellen, bei dem zur Abwechslung mal wir die Dummen sind, ein Häufchen Knochen in einer Museumsvitrine. Über dieses Stadium sind wir hinaus, haha. Entweder glauben wir, daß es immer so weitergeht, oder, daß alles mit uns endet. Raumfahrt ist Unsinn, zum kleinsten Planeten ist man schon Jahre unterwegs, dafür müssen sie erst eine andere Menschheit züchten. Und das All kommt bestens ohne uns aus, das ist schon bewiesen. Womöglich wäre uns das durchaus recht, obgleich wir das nie zugeben werden, denn ohne uns ist es natürlich eine öde Geschichte. Ein paar Uhren, die weiterticken, und keiner, der darauf achtet.«
»Sieht ganz gemütlich aus, mit diesen Hütten«, sagte Victor. »Und da, das kleine Boot mit dem Netz. Holzkohlenfeuer. Fisch ohne Quecksilber, ausschließlich Vollkornbrot mit schönen dicken Körnern. Und keine Scherereien …«
Arthur griff nach der Zeichnung. Museum für Vor- und Frühgeschichte. Das befand sich ebenfalls im Schloß Charlottenburg. Diese Blätter konnte man für zehn Pfennig das Stück kaufen. Wie wäre es gewesen, wenn man diese Menschen hätte sprechen hören können?
»Wenn du mit der U-Bahn nach Lichterfelde fährst«, sagte Arno, »dann saust du mitten durch die Vergangenheit. Auf diese Weise befinden wir uns ständig im Totenreich. Aber diese Toten haben sich uns nie vorstellen können …«
»Was für ein Alptraum …«
»Ja, aber trotzdem. Seit diese Menschen hier lebten, hat es hier nie mehr aufgehört. Ein immerwährendes Gespräch an ein und derselben Stelle. Gebrummel, Gemurmel, jahrhundertelange Worte und Sätze, ein endloses, unabsehbares Meer aus Geschrei und Geflüster, eine sich selbst vervollkommnende Grammatik, ein immer dicker werdendes Wörterbuch, und immerzu hier, stets weiter aufgehäuft, gleichzeitg verschwunden und geblieben – verschwunden, was gesagt wurde, und geblieben als Sprache –, alles was wir sagen, so wie wir es sagen, all diese ererbten Wörter und Wendungen, die sie uns hinterlassen haben und die wir dann auch wieder hinterlassen für …« Er deutete auf die dunkelbraune Decke, wo der Rauch seiner Zigarre Spiralen bildete wie der Nebel, in dem sich die undenkbare Zukunft verborgen hielt.
»… für die Arschlöcher, die nach uns kommen«, sagte Victor. »Wenn du es so plastisch darstellst, habe ich das Gefühl, sie sitzen schon mit den Füßen in meinem Essen.« Er blickte noch einmal auf die Zeichnung. »Mir würde es im übrigen durchaus gefallen, mich auf so einem Bild zu sehen, als die erdachte Erinnerung eines anderen. Hauptsache, sie laufen mir nicht mit ihren Sohlen durch meine Suppe. Aber gründlich zu verschwinden, dagegen habe ich nichts. Gründlich ist gut. Eigentlich eine beruhigende Vorstellung, finde ich.«
»Und die Werke, die du zurückläßt?« fragte Arno.
»Du glaubst doch wohl hoffentlich nicht an die Unsterblichkeit der Kunst, oder?« sagte Victor streng. »Über so was könnte ich mich immer totlachen. Vor allem Schriftsteller verstehen sich darauf, Meister der künftigen Unsterblichkeit. Spuren hinterlassen, nennen sie das, während das, was sie machen, noch am schnellsten verschimmelt. Aber sogar die wenigen Male, wo das nicht so ist, worum handelt es sich da? Dreitausend Jahre? Texte, die wir auf unsere Weise lesen, obwohl sie womöglich völlig anders gedacht waren …«
Er schaute wieder auf die Zeichnung. »Bitte sehr, kein Buch weit und breit. Weißt du was … du bringst denen mal ein Buch von Hegel und tauschst es gegen diesen Fisch ein. Für einen Freund, mußt du dann sagen, das verstehen sie schon. Berliner sind nette Leute. Und ich wüßte doch gar zu gern, wie so ein prähistorischer Fisch schmeckt.«
Herr Schultze brachte den Saumagen, der aussah wie ein zugenähter Ledersack.
»Soll ich ihn anschneiden?«
»Gern«, sagte Arno, und an Victor gewandt: »Aber noch mal zurück zu deinen Werken. Die sind ja immerhin aus
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