Allerseelen
unwiederholbaren Texte dessen, der einmal der Feind gewesen war.
»Dafür seid ihr zu spät geboren.« Er kannte sie noch immer, diese Lieder. Und im Lager selbst Umarmungen, Tränen, Erinnerungen, und immer wieder dieser Ton wie bei einem Klassentreffen. »Dort stand der Galgen, davon hab ich noch ein Foto. Dann mußten wir hier stehen, nein, nicht dort, hier in der Ecke, damit wir es auch richtig sehen konnten …«
Was für eine Chemie war das, die Tod und Leid in eine Gerührtheit verwandelte, in der die Stimmen und Gesichter verschwundener anderer mitsprachen? Bei Hardtke in der Meineckestraße hätten sie fast geschrien. »Karpfen in Bier gedünstet. Pilsener Urquell. Bommerlunder …« Diese Worte waren plötzlich durch einen für niemanden sonst in diesem Raum erkennbaren Beiklang verhext worden, alles schmeckte nach Krieg. Das einzige Mal, daß sie still gewesen waren, war auch das einzige Mal, daß er nicht hatte filmen dürfen, bei der Grenzwache der DDR, als strahle das Grün der Uniformen, der Anblick von Stiefeln und Koppeln und Mützen, das Gekeuche eines Hundes an der Kette immer noch eine Drohung aus, gegen die keine Erbsensuppe und kein Linseneintopf oder Hackepeter ankamen. Er hatte gesehen, wie sie sich unwillkürlich näher zusammengestellt hatten, zwei alte Niederländer auf Urlaub in Deutschland.
»Der Filmer befindet sich in absentia.« Plötzlich wurde ihm bewußt, daß die beiden anderen bereits eine Zeitlang geschwiegen hatten. Aber davor, davor war etwas gesagt worden, das sich in ihm festgehakt hatte.
»Das hat er öfter«, sagte Victor. »Dann filmt er innerlich. Er verläßt seine Freunde und macht eine Reise durchs All. Jemand getroffen?«
»Nein«, sagte Arthur. »Ich mußte auf einmal an … denken«, und er nannte die Namen der beiden Männer, weil er wußte, daß Victor sie kannte.
»Niet lullen maar poetsen«, sagte Victor auf niederländisch, und zu Arno: »Unübersetzbar. Du weißt, Niederländisch ist eine Geheimsprache, die dazu bestimmt ist, andere auszuschließen.«
»Ich versteh’s aber auch nicht«, sagte Arthur.
»Nicht quatschen – putzen! Die Devise der niederländischen Militärpolizei. Ich habe Stallaert, den Älteren der beiden, mal gefragt, wie er es drei Jahre lang in diesem Lager ausgehalten hat. Da sagte er das, nicht quatschen – putzen! ›So hieß das bei uns, bei der Militärpolizei.‹ Und als ich ihn fragte, wie der andere, der Dichter, das überlebt hatte, sagte er: ›Ach ja, den hat das sehr mitgenommen, aber wir haben ihn durchgeschleppt. Wir sind dafür ausgebildet worden, Dichter nicht. Und schließlich zeigten die Deutschen doch einen gewissen Respekt, wenn sie wußten, daß man Offizier war …‹« Letzteres wieder auf deutsch.
»Erzähl das mal in Polen«, sagte Arno.
Aber Arthur wollte noch immer wissen, worüber sie gesprochen hatten.
»Die Sohlen der Erinnerung.«
Das war es. Eigenartig, daß man doch etwas hören konnte, obwohl man nicht zuhörte. Da war er wieder, sein schon im Keim erstickter Film über Walter Benjamin.
»Aber wie seid ihr darauf gekommen«, fragte er.
»Ich habe für zwanzig Pfennig Vergangenheit gekauft«, sagte Arno. Sein Zyklopenauge funkelte, Arthur wußte, daß er jetzt mit einer Überraschung aufwarten würde. Freunde waren verläßlich. Arno, dachte er, war eine Art von jubelndem Denken eigen, das von allem möglichen in Gang gesetzt werden konnte, danach lief seine Orgel von allein. Aber zunächst noch ein wenig Geheimniskrämerei. Sie bestellten eine weitere Flasche Wein. Spielchen. Drei erwachsene Männer, zusammen gut und gerne hundertfünfzig Jahre alt. Arno legte zwei bedruckte Blätter auf den Tisch, Text mit ziemlich einfältigen Zeichnungen. Eine weite Landschaft, ein paar kleine Gebäude, die wie Hütten aussahen, eine niedrige Verschanzung, wie es schien aus Schilf geflochten. In der Ferne Hügel, ein Wald, ein Mann, der Heu auf dem Rücken trug, eine Frau auf einer Lichtung, mit irgend etwas in einem Topf beschäftigt. Auf dem nächsten Blatt etwas, das anscheinend ein Grab darstellen sollte. Knochen, ein Schädel, Tongefäße.
»Ich war in der Unterwelt«, sagte Arno. »Erinnerung muß schließlich irgendwo anfangen. Dies ist das allerälteste Berlin, die Rekonstruktion einer Siedlung aus der Bronzezeit. Diese Menschen wohnten im wahrsten Sinne des Wortes unter unseren Füßen. Das macht die Gegenwart ja so arrogant, daß wir uns weigern, darüber nachzudenken, daß auch wir irgendwann
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