Allerseelen
bewegte. Sie hatte Theoretische Physik studiert und schrieb Rezensionen und Artikel für russische Zeitungen, doch daneben hatte sie noch eine kleine Fotogalerie in der Fasanenstraße, die, drei Tage in der Woche nur nachmittags oder nach Vereinbarung geöffnet, auf deutsche Naturfotografie aus den zwanziger Jahren spezialisiert war, die Wolkenformationen von Stieglitz, die seriellen Sandriffel von Alfred Ehrhardt, Arvid Gutschows Wasser- und Sandstudien. Es war der Gegensatz zwischen ihrem exuberanten Äußeren und Auftreten und der lautlosen Welt dieser Fotos, der Arthur angezogen hatte. Alles auf ihnen schien mit einem Verschwinden zu tun zu haben, das gerade noch im letzten Augenblick verhindert worden war. An irgendeinem willkürlichen Tag vor über siebzig Jahren hatte ein Fotograf auf Sylt oder einer anderen deutschen Wattenmeerinsel unter alldem, was ihn umgab, diesen einen Ausschnitt gesehen, eine Spur, die der Wind gemacht hatte, das Meer, das die schmalen, unscheinbaren Furchen dieser Spur gefüllt und sich danach wieder zurückgezogen hatte. Das eiserne Licht jenes Tages hatte das winzige, sich stets wiederholende Ereignis gesteigert, der Fotograf hatte es gesehen, aufgezeichnet und bewahrt. Die Technik jener Zeit machte das Foto altmodisch und verschärfte den Widerspruch: Etwas, das zeitlos war, blieb das auch und wurde zugleich als etwas aus den zwanziger Jahren markiert. Das gleiche war mit Stieglitz’ Wolkenformationen passiert. Was dort am Himmel trieb, war diese eine, nie mehr dingfest zu machende Wolke, die langsam über die Landschaft gezogen war wie ein schwereloses Luftschiff, gesehen von Menschen, die jetzt nicht mehr existierten. Durch dieses Foto jedoch war diese Wolke alle Wolken geworden, die namenlosen Gebilde aus Wasser, die es immer gegeben hat, die es gab, bevor es Menschen gab, die sich in Gedichten und Sprichwörtern eingenistet hatten, flüchtige Himmelskörper, die wir meist wahrnahmen, ohne sie zu sehen, bis ein Fotograf kam, der diesem Vergänglichsten aller Phänomene eine paradoxe Beständigkeit verlieh, wodurch man gezwungen war, darüber nachzudenken, daß eine Welt ohne Wolken undenkbar ist und daß jede Wolke, wann oder wo auch immer, der Ausdruck aller Wolken ist, die wir nie gesehen haben und nie sehen werden. Nutzlose Gedanken, die ihm aber trotzdem kamen, weil diese Fotos und was mit ihnen versucht wurde, mit dem zu tun hatten, was er selbst anstrebte, das Bewahren von Dingen, die für niemanden bewahrt zu werden brauchten, weil sie im Grunde immer vorhanden waren. Aber darum ging es ja nun gerade: Irgendwann hatten der Wind und das Meer diese geriffelten, aufeinanderfolgenden Spuren geformt, sie waren nicht von einem Künstler erdacht, es hatte sie in Zeit und Raum wirklich gegeben, und jetzt, so viele Jahre später, lag diese Spur oder diese Wolke vor einem auf dem Tisch, man hatte das schützende Seidenpapier, das über dem Passepartout lag, vorsichtig weggenommen, und was da jetzt, ausgeschnitten in diesem Papprahmen, sichtbar wurde, war ein Augenblick in der wirklichen Zeit, anonym und doch bestimmt, ein namenloser Sieg über die Vergänglichkeit. Keine erdachte Wolke in einem Gemälde von Tiepolo, Ruysdael oder Turner konnte es damit aufnehmen … die stellten lediglich andere, wirkliche Wolken dar, die sich von niemandem hatten erwischen lassen.
Zenobia hatte ihre große Hand auf Arthurs Kopf gelegt.
»Was geht hier drinnen vor sich? Ein ernster Kopf, versunken in Gedanken? Was denkt er?«
»Er denkt über Wolken nach.«
»Ach, Wolken! Wolken sind die Pferde des Heiligen Geistes, hat meine Chemielehrerin immer gesagt, wenn sie erklären wollte, wie wenig eine Wolke wiegt. Nicht sehr wissenschaftlich. Wolken müssen über die ganze Welt ziehen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist … Russischer Unterricht, Faktenwissen und Aberglaube …«
Sie warf ihren Mantel nach hinten, als sei es selbstverständlich, daß dort ein Herr Schultze stand, um ihn aufzufangen.
»Außerdem durfte sie so etwas gar nicht sagen. Ach«, rief sie Schultze nach, »einen Wodka bitte! Einen doppelten, einen für mich und einen für meine Seele. Was für ein Tag! Und der Weg hierher! Ich komme mir vor wie ein Kavalleriepferd. Jetzt wird es tausend Jahre schneien, ich hab sie im Fernsehen gesehen, deine Wolken! Genau was de Gaulle gesagt hat, vom Atlantik bis zum Ural. Ein großer Meteorologe! Europa endlich vereint, eine große graue Decke tausendjähriger Wolken, und darunter wuseln
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