Allerseelen
Stein, die überdauern also eine Weile …«
»Und wenn schon? Eines Tages findet jemand eins und starrt eine Weile darauf. Oder es landet in so einer gräßlichen Vitrine … Mitte 20. Jahrhundert, Künstler unbekannt, hahaha … Das ist das gleiche, wie wenn ich mir in einem Museum so ein Steingefäß wie auf dieser Zeichnung anschaue. Dann stelle ich mir vielleicht noch vor, daß jemand das aus Ton getöpfert hat oder daß eine große blonde Germanenfrau, die mir vielleicht gefallen hätte, daraus getrunken hat, aber was hat der Mann davon, der dieses Gefäß gemacht hat …«
»Daß er es gemacht hat. Die Freude am Machen.«
»Oh, das streite ich ja gar nicht ab«, sagte Victor, »aber da muß dann Schluß sein.«
Arno erhob sein Glas.
»Auf unsere kurzen Tage. Und auf die Millionen Geister, die um uns herumschwirren.« Sie tranken.
»Ich finde es ganz hübsch, von Toten umgeben zu sein. Tote Könige, tote Soldaten, tote Huren, tote Priester … du bist nie allein.«
Er lehnte sich zurück und begann zu brummen. Sowohl Victor als auch Arthur kannten dieses Geräusch, Schwerlastverkehr in der Ferne, ein Hund, der auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig einen Artgenossen sieht, ein Musiker, der einen Baß ausprobiert. Auf jeden Fall bedeutete es, daß er über etwas nachdachte, was ihm zu schaffen machte.
»Hm. Und trotzdem stimmt da was nicht. Du bist nicht derjenige, der bestimmt, wo die Grenze deiner Unsterblichkeit liegt.«
»Unsterblichkeit gibt es nicht.«
»Na schön, dann also metaphorisch gesprochen. Homer, wer immer das war, konnte auch nicht wissen, daß er eines Tages vielleicht in einem Raumfahrzeug gelesen werden würde. Du willst eine Grenze bestimmen, du willst sagen, dann oder dann schaut sich niemand mehr meine Werke an. Aber eigentlich bedeutet das genau das Gegenteil.«
Das Auge funkelte. Jetzt kam die Beschuldigung.
»Du sagst das ja nur aus purer Angst, weil du die Verfügungsgewalt über das, was du erschaffen hast, nicht verlieren willst. Es ist eine Flucht nach vorn. Du willst deiner eigenen Abwesenheit zuvorkommen, aber solange deine Werke noch existieren, werden sie dich auf irgendeine Weise verkörpern, auch wenn du nichts mehr davon weißt und dein Name schon lange vergessen ist. Und weißt du, warum? Weil es sich hier um einen gemachten Gegenstand handelt. Hier kannst du keine Grenze bestimmen. Genau das wirft Hegel Kant ja vor: Wer eine Grenze festlegt, hat sie im Grunde schon überschritten, und wer sich auf seine Endlichkeit berufen will, kann das nur aus der Perspektive der Unendlichkeit. Ha!«
»Ich kenne diese Herren nur vom Namen«, sagte Victor, »ich habe noch nie Kaffee mit ihnen getrunken. Ich bin nur ein einfacher, pessimistischer Bildhauer.«
»Es ist doch ein Unterschied, ob die Natur etwas erschafft oder ob du etwas erschaffst, stimmt’s oder stimmt’s nicht?«
»Bin ich denn keine Natur?«
»Oh doch, du bist auch ein bißchen Natur. Unvollendete Natur, verschandelte Natur, sublimierte Natur, das kannst du dir selbst aussuchen. Aber eines kannst du nicht – und das ist: nicht dabei denken, wenn du etwas erschaffst.«
»Ist Denken denn unnatürlich?«
»Hab ich nicht gesagt. Aber in dem Moment, in dem du über die Natur nachdenkst, entfernst du dich von ihr. Die Natur kann nicht über sich nachdenken. Du schon.«
»Aber dann könntest du auch sagen, daß die Natur mich benutzt, um über sich selbst nachzudenken …« In diesem Augenblick fegte eine Sturmbö durch den Raum, unmittelbar gefolgt von einer stattlichen Frauengestalt im Pelzmantel. Die Kerzen auf allen Tischen flackerten, als würden sie gleich verlöschen. Eine Sekunde später stand sie an ihrem Tisch.
»Zenobia, laß mich eben noch diesen Satz beenden«, sagte Arno, und an Victor gewandt: »Du kannst nicht über dein Grab hinaus regieren, auch nicht im Negativen!«
»Kinder, was für ein trauriges Gespräch … Dein Grab, dein Grab, die ganze Stadt ist unter Schnee begraben. Schaut! Zählt!«
»Zählt was?«
»Wie lange es dauert, bis diese Schneeflocken Tränen werden …«
Sie hatte die Arme hochgehoben und schaute nach unten. Auf ihrem Busen schmolzen die Schneeflocken.
»Mein Mantel cheult!«
Zenobia Stejn war die Zwillingsschwester von Vera, Arnos Frau. Nur wer beide sehr gut kannte, konnte sie auseinanderhalten. Sie hatten den gleichen schweren russischen Akzent, aber Vera, die malte, war schweigsam und verschlossen, während Zenobia sich wie eine Gewitterwolke durchs Leben
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