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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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wir herum, auf unseren albernen Beinchen. Ach, und Berlin im Schnee der Unschuld, sämtliche Unterschiede verwischt, die perfekte Ehe zwischen Ost und West, die Apotheose der Versöhnung. Schnee auf holländischen Bänken, deutschen Kirchen, dem sich entvölkernden Brandenburg, dem leidenschaftlichen Polen, Schnee auf Königsberg-Kaliningrad, hauchzart, wie Spitze, Schnee über der Oder, Schnee auf den Toten … ja, kleiner Däumling, jetzt hast du mich angesteckt mit deinen Wolkendämonen, ich komm hier rein als glückliche Frau, verfolgt von einem Wirbelwind, auf der Suche nach menschlicher Wärme, und sei es auch nur die eines Holländers, und was find ich: drei düstere Waldschrate. Das erste Wort, das ich höre, ist: Grab. Wenn jetzt jemand beerdigt werden muß, dann müssen sie erst den Schnee wegräumen und danach den Boden aufhacken!«
    »Uns graust’s vor nichts«, sagte Victor. »Ich hab die Geräte dafür. Wer will als erster?«
    Arthur lehnte sich zurück. Vielleicht, dachte er, ist das ja der Grund, warum ich immer wieder nach Berlin zurückkehre. Ein Kreis, in den er aufgenommen war, dessen Mitglieder einander mit halben Worten oder Sätzen verstanden, in dem man in Metaphern oder Hyperbeln sprach oder schwieg, Unsinn seine eigene Bedeutung hatte und man nichts zu erklären brauchte, wenn man keine Lust dazu hatte. Er wußte auch, wie dieser Abend enden würde. Er und Victor würden immer stiller werden, und Zenobia und Arno würden sich gegenseitig mit Mandelstam und Benn bombardieren, deren komplette Werke sie anscheinend auswendig konnten. Daß sie das Russisch von Mandelstam nicht verstanden, spielte dann schon längst keine Rolle mehr, genausowenig wie die Kluft zwischen den Biographien der beiden Dichter noch eine Rolle spielte. Die russischen Verse wogten durch den kleinen Raum, andere Gäste gab es nicht mehr, sie umspülten den kleinen Tisch mit diesen leidenschaftlichen, explodierenden Lauten, und die schroffen, zerfetzenden Gedichte Benns mit ihren unerwarteten, so undeutschen Reimworten strömten dagegen, zwei tragische Leben, die in ihrer Zerstörung und schuldhaften Verletzung das Jahrhundert zusammenzufassen schienen. Wenn sie dann noch nicht genug hatten, gingen sie zu Arno, der nicht weit von dort wohnte, und auch da war es Deutschland und Rußland, denn Arno hatte ein Klavier, auf dem er schlecht, aber mit viel Pathos Schubert und Schumann spielte, woraufhin Victor auf Veras und Zenobias Bitte stets das Largo aus der 2. Sonate von Schostakowitsch spielen mußte, äußerst langsam, fast flüsternd, »wie nur ein Russe es spielen kann, Schostakowitsch, dieses Hundekind. Ach Victor, gib’s doch zu, eigentlich bist du ein Russe!«
    Deutschland und Rußland, in solchen Augenblicken war es, als hätten diese beiden Länder ein für einen atlantischen Niederländer kaum zu begreifendes Heimweh nacheinander, als übe diese unermeßliche Ebene, die dort, bei Berlin, zu beginnen schien, einen geheimnisvollen Sog aus, aus dem früher oder später wieder etwas hervorgehen mußte, das jetzt noch nicht an der Reihe war, das aber allem scheinbaren Gegenteil zum Trotz die europäische Geschichte noch einmal kippen würde, so als könnte diese gewaltige Landmasse sich umdrehen, wobei die westliche Peripherie wie eine Decke von ihr abgleiten würde.
    Wieder diese Hand! Warum Zenobia ihn immer kleiner Däumling nannte, wußte er nicht. Vierundvierzig Jahre und ein Meter einundachtzig, aber er war’s zufrieden. Neben dieser Gewalt fühlte er sich wohl, gerade weil ihr Radar immer erspürte, womit er sich gerade beschäftigte, und sie ihm gleichzeitig die Freiheit ließ, an seinen Gedanken zu spinnen. Und außerdem wußte er, daß »Alkohol die Wolke war, aus der sie ihre Seele schneien ließ«. Schon wieder Wolken, schon wieder Schnee. Aber sie hatte es selbst einmal gesagt, als sie sturzbetrunken war und er sie mit fester Hand zu ihrer Wohnung bugsiert hatte.
    »Ich trinke gegen die Fakten an«, hatte sie damals erklärt, und obwohl er nicht genau wußte, was sie damit meinte, hatte er doch das Gefühl, sie verstanden zu haben. Sie hatte mit ihrer geballten Faust gegen seine Brust geschlagen (»Das machen wir Russen so«), ihre blauen Augen im Licht des Hauseingangs genau auf seine gerichtet (»Es gibt auch Juden mit blauen Augen«).
    »Das Subjektive trinkt gegen das Objektive … hör auf meine Worte, hahaha …«, und damit war sie in ihr Haus gestürmt und hatte ihm die Tür vor der Nase

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