Allerseelen
zugeschlagen. Im Treppenhaus hörte er sie noch rufen: »Hör auf meine Worte, hör auf meine Worte!«
Herr Schultze war wieder am Tisch erschienen. Sein Sohn, der das Aussehen eines bösen Engels hatte und die Manierismen seines Vaters (»Falls es sein Vater ist«, sagte Victor), hatte inzwischen abgeräumt, und der Vater starrte auf den leeren Tisch, als ginge es um ein metaphysisches Problem. Wie eine Marionette streckte er einen steifen Arm zu dem leeren Fleck aus und fragte, was da jetzt hinkommen solle. Er habe einen Vorschlag, und sie wußten alle, welchen. Es kam jetzt nur noch auf die rituelle Formulierung an.
»Der Triumph des Landmanns?«
»Wunderbar.«
»Das Korn, die Kuh und das Schwein?«
»Alles.«
Kurz darauf erschienen ein Brett und darauf ein Topf Schmalz, ein paar Scheiben grobes, fast schwarzes Brot und ein großes Stück Käse, das jemand irgendwann im Mittelalter in den Schrank gelegt und das man erst jetzt wiedergefunden hatte. Handkäse.
»Es sieht eigentlich noch am ehesten aus wie ein Stück Sunlichtseife«, sagte Victor. »Warum nennt ihr so was eigentlich Käse? Das ist etwas, womit man Leichen versiegelt.«
»Luther, Hildegard von Bingen, Jakob Böhme, Novalis und Heidegger haben alle diesen Käse gegessen«, sagte Arno. »Was du riechst, dieser penetrante Gestank, das ist die deutsche Variante der Ewigkeit. Und was du siehst, diese glänzende und zugleich matte durchscheinende, leicht talgig aussehende Materie, das könnte durchaus die mystische Essenz meines geliebten Vaterlands sein«, und er stieß sein Messer hinein. »Trinken wir erst noch einen Roten oder gehen wir gleich zum Hefe über? Herr Schultze, bitte, vier Hefe aus dem Kloster Eberbach.«
Hefe, Arthur hatte das Wort nachgeschlagen. Hefe, Bodensatz, Sediment, Hefe des Volkes, aber diese Umschreibungen konnten mit dem so hell aussehenden, bleichgoldenen Getränk in den hohen Gläsern, die jetzt vor ihnen standen, nichts zu tun haben. Der Geist des Weins. Ringsum hörte er das leise Stimmengewirr der anderen Gäste. Es konnte unmöglich wahr sein, daß sie hier mitten in einer Weltstadt saßen, und ebensowenig, daß diese Stadt unter einer dicken Schneeschicht lag, die wieder schmelzen und eine große graue, eiskalte Matschwüste hinterlassen würde. Morgen früh, bei Tagesanbruch, würde er zum Hotel Esplanade gehen, um den Potsdamer Platz noch einmal zu filmen.
»Cherr Schultze«, sagte Zenobia, »wie geht’s dem alten Herrn Galinsky? Der ist natürlich nicht durch dieses Sauwetter gekommen, oder?«
»Da kennen Sie Galinsky aber schlecht. Der sitzt wie üblich an seinem Platz in der Ecke.«
Sie drehten sich um. In einer entfernten Ecke saß ein sehr alter Mann allein am Tisch, das Profil seines Gesichts ihnen zugewandt. Niemand wußte genau, wie alt er war, jedenfalls weit über neunzig. Er kam jeden Abend zu später Stunde (»Ich schlafe ja doch nicht mehr«), war einst in einem Berlin, das keiner von ihnen mehr erlebt hatte, Stehgeiger gewesen, Primas in einer Zigeunerkapelle, die im »Adlon« spielte. Er hatte alles überlebt. Sonst wußten sie nichts von ihm. Nach elf kam er in das Lokal, trank langsam eine Karaffe Wein, rauchte eine Zigarre und schien in ein endloses Grübeln versunken.
»Ich geh ihn mal eben begrüßen«, sagte Zenobia, aber als sie zurückkam, schien es, als sei das kurze Gespräch nicht gut verlaufen.
»Was hat er gesagt?« fragte Arno.
»Er hat nichts gesagt, und es sieht nicht danach aus, als hätte er Lust, je noch etwas zu sagen.«
»Traurig?«
»Im Gegenteil. Aber er hatte so einen eigenartigen Blick, als würde er innerlich in Brand stehen. Er strahlte.«
»Russische Phantasie. Slawische Übertreibung.«
»Kann schon sein. Ich kann es auch noch russischer sagen. Er hatte beinahe einen Nimbus, er ist eine Ikone geworden. So besser?«
Sie schauten.
»Du meinst doch nicht diese kleine Schirmlampe über ihm?«
»Nein. Wenn ihr es sehen wollt, dann müßt ihr euch genau vor ihn stellen. Seine Augen leuchten … Ich kenne diesen Blick.«
Sie brauchte nichts zu erläutern. Zenobia hatte als Kind die Belagerung Leningrads miterlebt und einmal davon erzählt. Was Arthur im Gedächtnis geblieben war, war ihre Beschreibung dessen, was sie das stille Sterben nannte, Sterben vor Hunger und Kälte, Menschen, die aufgegeben hatten, die sich irgendwo mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke gelegt hatten, als sei die Welt, die nun auf ein einziges Zimmer reduziert war, bereits von ihnen
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