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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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abgeglitten, ein feindseliges, leeres Element, zu dem sie nicht mehr gehörten. Das, dachte Arthur, mußte es auch gewesen sein, was sie in jener betrunkenen Nacht mit ihrem »Haß gegen die Fakten« gemeint hatte. Einmal war er darauf zurückgekommen.
    »Ach das«, hatte sie gesagt, »das ist nun wieder eine typische Däumling-Frage. Du darfst nie jemanden daran erinnern, was er in betrunkenem Zustand gesagt hat. Und mich schon gar nicht, denn ich bin öfter mal betrunken.«
    »Warum nennst du mich eigentlich immer kleiner Däumling?« fragte er plötzlich, »so klein bin ich nun auch wieder nicht.«
    »Damit hat es auch nichts zu tun. Du streust überall deine Krümel aus, Victor behält alles für sich, und Arno wirft ganze Brote hin. Du sagst nie viel, aber einen Tag später oder so finde ich doch immer Krümel.«
    »Und diese Fakten?«
    »Fängst du schon wieder an?«
    »Ja.«
    »Schwierig, schwierig.«
    »Eine Wissenschaftlerin kann doch nichts gegen Fakten haben?«
    »Ach, solche Fakten meine ich natürlich auch nicht. Sofern ich überhaupt noch weiß, was ich damals gemeint habe. Die Fakten, von denen du jetzt sprichst, besitzen natürlich immer Gültigkeit.«
    Stille.
    »Ja, ich weiß, daß du wartest.«
    Stille.
    »Es geht darum … daß alles Elend dieser Welt als Fakt hingestellt wird … und daß dadurch alles nur weniger wirklich wird. So wird es in der Geschichte aufgeführt sein, ausführlicher oder weniger ausführlich, das hängt vom Buch ab: Belagerung von Berlin, Belagerung von Leningrad, von dann bis dann, so viele Tote, heldenhafte Bevölkerung … und genauso sehen wir jetzt fern, wir sehen Menschen, Flüchtlinge, die ganze Chose, jeden Abend andere, alles Fakten, genauso wie die Lager des Gulag Fakten sind, aber faktisch«, sie lachte, »sieh dir die Sprache an! – aber faktisch halten uns die Zahlen und die Berichte eher davon fern, als daß sie uns dem näherbringen … so als sähen wir, während wir schauen, mit einer Art Titanenblick über all die Lager, Massengräber, Minenfelder, Blutbäder hinweg … unser Blick ist bereits unmenschlich geworden … es kommt nicht mehr an uns heran, wir registrieren diese Dinge als Fakten, vielleicht noch gerade eben als Symbole des Leids, aber schon nicht mehr als Leid, das zu uns gehört … und so werden diese Fakten, wird der Anblick dieser Fakten zu dem Panzer, der uns vor ihnen verschließt … vielleicht kaufen wir uns noch mit ein bißchen Geld frei, oder der abstrakte Staat tut das für uns, aber es berührt uns nicht mehr, das sind andere, die sind auf den falschen Seiten des Buchs gelandet. Denn das wissen wir, sogar in dem Moment, in dem es passiert, in dem es Geschichte ist, dafür haben wir einen Riecher entwickelt … das ist doch ein Wunder, gleichzeitige Geschichte, und dann auch noch nichts damit zu tun zu haben … Arno, was hat dein dämlicher Hegel gleich wieder gesagt … die Tage des Friedens sind die unbeschriebenen Seiten im Buch der Geschichte, oder so was Ähnliches … nun, jetzt sind wir diese weißen Seiten, und das genau ist es ja, wir sind nicht da.«
    »Er sitzt so still wie eine Statue«, sagte Victor, der schnell mal nach Galinsky schauen gegangen war. »Ich wollte mich noch hinknien, aber ich sah nichts glänzen. Er denkt mit geschlossenen Augen nach.«
    »Dann hat er sie rechtzeitig geschlossen«, sagte Zenobia, »ruf mal Schultze.«
    »Ah, eine scharfsinnige Tischrunde«, sagte Schultze. »Ich hatte es schon gesehen, aber ich dachte, ich laß ihn noch ein bißchen sitzen. Ich hab ihn gefragt, ob er noch ein Glas Wein will, denn er hatte seine Karaffe ausgetrunken. Aber er saß nur da und strahlte ein bißchen vor sich hin, als ob er in der Ferne Musik hörte. Er sah durch mich hindurch, nein, er lachte durch mich hindurch, und dann legte er seine Zigarre beiseite und schloß die Augen. Und weil wir sowieso bald zumachen, wollte ich meinen Gästen keinen Schreck einjagen. Sobald Sie alle weg sind, rufe ich den Notarzt. Aber Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Er sitzt da sehr zufrieden und sehr aufrecht. Ein perfekter Gast, immer gewesen. Ein Herr. Sie bekommen noch ein Hefe, vom Haus.« Er goß etwas voller ein als sonst, und sie erhoben die Gläser in Richtung des Toten.
    »Servus«, sagte Victor, und es klang, als sänge er die Melodie dazu.
    Sie gingen nach draußen. Jetzt waren es keine dicken Flocken mehr, sondern weiche Pulverkörnchen, die unter den hohen Lichtern des Kurfürstendamms herabrieselten.

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