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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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beschäftigt mit einer Magisterarbeit über spanische Mystiker, und ging zu der langen Reihe der Karteikästen, um so zu tun, als suche er etwas. Er fand alles mögliche, und nach wenigen Minuten hatte er vergessen, daß er nur so tat, als ob. Einige der Karten waren noch von Hand beschriftet, andere auf Schreibmaschinen getippt, die nicht mehr existierten. Willkürlich notierte er Titel aus verschiedenen Karteikästen, angestachelt durch einen geheimen, schreiberlinghaften Genuß. Haïm Vidal Sephira, l’Agonie des judéo-espagnols , José Orlandis, Semblanzas visigodas , Juan Vernet, La Ciencia en Al-Andalus , Cartulario del Monasterio de Santa Maria de la Huerta , Menéndez-Pidal, Dichtung und Geschichte in Spanien. Auch dies war also eine Sammlung, eine Buchhaltung – im eigentlichen Sinne des Wortes – der Welt, der aktuellen wie der vergangenen Wirklichkeit. Er dachte, wie leicht man sich darin verlieren könnte, und fragte sich, ob es auch Bücher und Veröffentlichungen gebe, nach denen nie mehr gefragt wurde, so daß das Wissen, das in ihnen zusammengetragen war, dort irgendwo in einem Magazin weiterschwelte, wartend, bis jemand sich plötzlich für diesen vernachlässigten Zeitabschnitt interessierte, das jüdische Viertel von Zaragoza im dreizehnten Jahrhundert, den Verlauf einer Feldschlacht zwischen längst vergessenen mittelalterlichen Fürsten, die Kolonialverwaltung Perus im siebzehnten Jahrhundert, alles genauso ungültig geworden wie die Sandriffel und Wolkenformationen auf Zenobias Fotos und trotzdem aus dem einfachen Grund aufbewahrt, weil es irgendwann existiert hatte, irgendwann zu einer lebendigen Wirklichkeit von Menschen gehört hatte, etwas, das jetzt noch als radioaktiver Abfall dort irgendwo in verstaubten Büchern oder auf einem Mikrofilm als unzulängliche Verdoppelung weiterschlummerte, Widerspiegelung eines Fragments, als sei diese Welt selbst in einen nie endenden Papierwickel gerollt und müsse so noch einmal existieren, der Lärm von Schlachtfeldern, das Protokoll einer Verhandlung, all das unaufhörliche Wollen und Agieren, erstickt und ohnmächtig geworden unter stets wieder neuen Schichten flüsternden, raschelnden Papiers, wartend auf das Auge des Zauberers, das sie noch einmal zum Leben erwecken würde.
    Er schaute zu den Leuten, die da saßen und arbeiteten, jeder verbunden mit einer für ihn unsichtbaren, an einen Ort und eine Zeit gebundenen Wirklichkeit. Bibliotheken, dachte er, waren dazu da, um Dinge zu bewahren, natürlich hatten sie auch mit der Gegenwart zu tun, die sich im übrigen mit jeder Minute in eine Vergangenheit verwandelte, doch das Bewahren war ein Ausdruck von etwas anderem, einem verbissenen Kampf selbst des geringfügigsten Ereignisses gegen das Vergessenwerden, und das konnte nichts anderes sein als Überlebenstrieb, die Weigerung zu sterben. Wenn wir etwas, gleichgültig was, von der Vergangenheit sterben lassen, dann kann uns das genauso passieren, und das ließ sich nur durch diese Aufbewahrsucht beschwören. Es war unwichtig, ob irgend jemand noch je die Nebenlinien des aragonischen Adels im zehnten Jahrhundert erforschen wollte oder das Taufregister der Kathedrale von Teruel im sechzehnten Jahrhundert oder die Entwurfszeichnung des Hafens von Santa Cruz de Tenerife, es ging vielmehr darum, daß sich die Vergangenheit als Vergangenheit noch irgendwo befand und damit weiterexistierte, bis die Beschreibung der Welt, gemeinsam mit der Welt, aufgehört hatte.
    Er schaute zu dem Platz, wo sie sitzen mußte, sah sie aber nicht mehr. Idiot, sagte er zu sich selbst, und er wußte nicht, ob er das tat, weil er sie hatte gehen lassen, oder weil er sich noch immer mit diesem Kinderkram beschäftigte. Was sie hier wohl tat? Diese Frage war durch all die Karteikarten plötzlich aktuell geworden. Schließ mal eine Wette mit dir selbst ab. Gut, also Soziologie, Lateinamerika, jedenfalls etwas Gegenwärtiges, etwas, das mit Aktion zu tun hatte. Das sagte ihm dieser Rücken; keine Spinnweben, kein temps perdu und schon gar keine Wolkenformationen, keine Anonymität. Die Stellung der guatemaltekischen Frau in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, irgend so was. Mit Verschwinden hatte dieses Gesicht, das, was er davon gesehen hatte, bestimmt nichts zu tun.
    Er ging zu dem Platz, an dem sie gesessen hatte, nahe dem Ausgabeschalter. An ihrem Tisch bückte er sich, um etwas aufzuheben, was nicht dalag, und sah auf das aufgeschlagene Buch auf ihrem Tisch,

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