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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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konnte er das Foto sehen. Seine eigenen Briefe hatte er nie mehr lesen wollen. Die eigenen Briefe zu erben, das war nicht in Ordnung. Aber er hatte sich auch nicht dazu überwinden können, sie zu verbrennen, das nun auch wieder nicht. Regen kratzte die Gracht auf, weiße Nadeln im dunkelgrünen Wasser.
    »Wieso kannst du dich nicht mehr verlieben? Doch nicht wegen der Vorstellung des Verrats?«
    »Nein, das ist es nicht.«
    Und das war es auch nicht. Wenn es Verrat gab, dann mußte es das Überleben an sich sein, das ungebührliche Tun und Treiben der Lebenden, das bereits begann, wenn sie sich am Grab zum Gehen wandten. Sooft man später auch wiederkehrte, dieses allererste Mal konnte man nie mehr ungeschehen machen. Das war die Trennung zwischen den Toten und den Lebenden, die durch endloses Händeschütteln, gemurmelte Beileidsworte, Kaffee, der nachts von der Verstorbenen gebraut wurde, eidottergelben Kuchen, die Nahrung der Unterwelt, beschworen werden mußte. Die Tote war allein gelassen mit schwarzgekleideten Männern, gehörte nun Fremden, gleichgültigen Schändern, während derjenige, der neben ihr hätte liegen müssen, sich ein paar hundert Meter weiter von den Banalitäten der Hilflosigkeit einschnüren ließ.
    »Aber was sonst?«
    »Mangelndes Vorstellungsvermögen, glaube ich.«
    Möglicherweise hätte er sogar Treue sagen wollen, aber dann wären sie doch wieder beim Verrat gelandet, und das paßte nicht. Erna kannte seine Abenteuer, vor ihr hatte er keine Geheimnisse.
    »Es wäre viel abwegiger, wenn du immer allein bleiben würdest. Dann fängst du nämlich an zu schimmeln. Du kannst doch jederzeit eine Frau kennenlernen, die …« Aber das genau war undenkbar. Er konnte sich alles mögliche vorstellen, nur keine wirkliche Intimität.
    »Ich bin ständig unterwegs.«
    »Das warst du früher auch.«
    »Ja, Erna.«
    Jetzt war sie an der Reihe, da vorne. Diskussion. Der Bibliothekar tat sein Bestes. Er suchte ein Papier im Karteikasten, drehte sich um und hob dann zwei schwere Bücher aus einem Regal, in dem schon viel andere Weisheit in Stapeln bereitlag. Sie warf einen Blick hinein, nickte und ging zu ihrem Platz zurück. Jetzt sah er nur noch einen Rücken. Keinen Vermeer-Rücken, soviel war sicher. Das war auch nicht möglich bei diesen Augen.
    Was konnte man eigentlich über jemanden denken, den man überhaupt nicht kannte? Dieser Rücken verriet nichts. Ein schwarzes Rechteck, an dem Fragen abprallten. Und was wollte er selbst hier mit seiner armseligen mexikanischen Zeitung? Worin bestand seine Legitimation? Rechts von sich hörte er das leise Klicken von Computertasten. Er liebte Bibliotheken. Man war allein und gleichzeitig unter Leuten, die alle mit irgend etwas beschäftigt waren. Hier war es klösterlich still, und nach einer Weile konnte er die unterschiedlichen Arten von Geräuschen unterscheiden, Schritte, wenngleich gedämpfte, das Hinlegen schwerer Bücher, Geraschel von Seiten, die umgeschlagen wurden, ein geflüstertes Gespräch, das kurze, immer wiederkehrende Geräusch eines Fotokopierapparats. Dies war das Revier von Spezialisten, jeder hier beschäftigte sich mit etwas, das mit Spanien oder Lateinamerika zu tun hatte, hier hatte er nichts zu suchen. Sein einziges Alibi waren die Zeitungen und Zeitschriften sowie die Tatsache, daß er Spanisch sprach.
    Nach oben, in die große Bibliothek, ging er regelmäßig. Nur spezielle Bücher mußte man bestellen, der Rest stand in der sogenannten Handbibliothek, französische, deutsche und englische Klassiker, niederländische Zeitschriften, die verschiedensten Enzyklopädien, Stunden konnte man hier verbringen, und das tat er auch regelmäßig, ein schon etwas älterer Student, der niemandem unangenehm auffiel. Hier in der spanischen Abteilung fiel er übrigens auch nicht auf, Olav Rasmussen, Spezialist für portugiesische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, wer wollte einem was? Er legte die Zeitung hin und ging zu einem der kleinen zellenartigen, jedoch offenen Räume, wandte sich zu den offenen Bücherschränken vorn am Ausgabeschalter und zog den erstbesten dicken Band heraus, D. Abad de Sentillon, Diccionario de argentinismos . Nun mußte er seine Identität anpassen, Philip Humphries, assistant professor at Syracuse University, Spezialist für Gaucholiteratur. Er legte den dicken Band auf seinen Arbeitsplatz und knipste das Licht an, damit sich hier niemand anders hinsetzte, erhob sich dann wieder als Umberto Viscusi,

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