Allerseelen
ein spanischer Text auf vergilbtem Papier, von demselben Format wie das Buch mit dem roten Leineneinband daneben, Archivos Leoneses, 1948 . Mit Lateinamerika hatte das offensichtlich wenig zu tun. Was ihn aber noch mehr verwirrte, war der halb aus der Segeltuchtasche hervorschauende Groene Amsterdammer , den er gerade noch bemerkt hatte, als er sich aus der gebückten Haltung aufgerichtet hatte und weiterging, weil er kurze, schnelle Schritte hinter sich hörte. Am Schalter fragte er, was er tun müsse, um hier Bücher bestellen zu können.
»Für hier oder für draußen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Wenn Sie sie mit nach Hause nehmen wollen, müssen Sie einen Nachweis erbringen, daß Sie in Berlin polizeilich gemeldet sind.«
Ein niederländischer Akzent hatte zur Folge, daß man sofort als Ausländer enttarnt wurde. Ihren aber hatte er denn doch nicht in ihrem Spanisch erkannt. Und sie bei ihm? Andererseits, man mußte nicht unbedingt Niederländer sein, um den Groene Amsterdammer lesen zu können.
»Und außerdem brauchen Sie dann eine Referenz.«
Er bedankte sich bei dem Mann und schrieb auf eines der Bestellformulare, die dort lagen: »Kann ich dich nachher etwas fragen? Ich sitze um ein Uhr in der Cafeteria der Staatsbibliothek oben, am Fenster. Es geht um eine Referenz. Arthur Daane.« Er legte den Zettel im Vorbeigehen auf ihren Arbeitsplatz.
Zwei Stunden später würde auch sie einen Namen haben, der Beginn der Ent-Fremdung, die Erkundung des Grenzgebiets. Menschen, die einander nicht kennen und ihre Körper einander gegenüber plazieren, grenzen in diesem Augenblick zum erstenmal aneinander. Namen haben nichts Selbstverständliches, es ist unmöglich, einen Körper, den man nicht kennt, zu sehen und zu wissen, wie er heißt. Ent-Fremdung war ein gutes Wort. Jemand würde von diesem Augenblick an weniger fremd werden, und dieser Prozeß war unumkehrbar. Stimme, Bewegungen, Motorik, Augenaufschlag, alles, was jetzt noch unbekannt war, woran man jemanden aber wiedererkennen würde, wurde jetzt registriert. Patrouillen hin und her im Grenzgebiet, Aufregung, Neugier, Genuß. Ihre Motorik war jedoch einstweilen abwehrend.
Sie war stehen geblieben, er war aufgestanden und hatte gesagt: »Setz dich doch.« Sie hatte ihren Namen nicht genannt, aber kannte nun seinen, und lange Sekunden war sie mit ihrem unbenannten Körper im Vorteil, er wußte nicht, warum ihn das erregte, eine namenlose Frau, ungelenk auf ihrem Stuhl, ungeduldig. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Ja.«
Das bedeutete, daß er aufstehen mußte, sich in die Schlange einreihen, sehr sichtbar, aber sie schaute nicht, saß am Fenster und blickte auf das Spalier der Baukräne. Bockwurst, Kartoffelsalat wurde auf die Teller vor ihm gehäuft, vorsichtig kehrte er zurück mit den beiden großen Tassen voll schwarzem Wasser. Während er auf den Kaffee wartete, hatte er ein paar Namen ausprobiert, keiner davon stimmte. Annemarie, Claudia, Lucy, es war genauso lächerlich wie Eltern, die sich für ihr noch unsichtbares Kind einen Namen zu überlegen versuchen. Sie jedoch war sichtbar, und kein einziger Name schien zu ihr zu passen. »Ich heiße Elik.«
Elik, so hieß man nicht, und von dieser Sekunde an hätte sie folglich nie anders heißen können. Elik, natürlich. Der Körper, der Elik hieß, war plötzlich ganz und gar Elik, der grobe Stoff ihrer dunkelgrauen Jeans: Elik, die grüngrauen klaren Augen: Elik.
»Den Namen hab ich noch nie gehört.«
»Meine Mutter hat sich bei drei Dingen vertan. Erstens bei dem Mann, mit dem sie ins Bett ging, meinem Vater also, zweitens weil sie schwanger wurde und das Kind nicht wegmachen ließ, und drittens bei diesem Namen. Den hat sie irgendwann aufgeschnappt und geglaubt, es sei ein Mädchenname. Aber er stammt vom hintersten Balkan und ist ein Männername, in der Verkleinerungsform.«
Dies war keine Erkundung des Grenzgebiets mehr. Die unsichtbare Grenze, die irgendwo in der Mitte des Tisches gelegen hatte, lag nun dicht bei ihm, dies war ein Überfall. Hier war jemand, der ganz viel auf einmal gesagt hatte, und zwar auf eine Art und Weise, als beträfe es sie nicht. Er wußte nicht, wie er darauf reagieren sollte. Elik.
»Ich finde, das ist ein schöner Name.«
Schweigen. Wenn man so auf seinem Stuhl saß, gab man darauf keine Antwort. Schön, das wußte sie selber. Nichts an ihr bewegte sich. Regungslos, die Hände auf dem Tisch. Eine Frau wie ein Hinterhalt. Wieder so ein tolles Wort.
»Jetzt
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