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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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wohl so, daß die Unfähigkeit zu trauern sich in ihr Gegenteil verkehrt hatte und daß sich eine zwingende, unaufhörliche Trauer in den Seelen mancher niedergeschlagen hatte, ein schweigender Klosterorden, der keine Antwort auf das Böse hatte finden können und es nun im Namen der anderen mit sich trug. Im Vorbeigehen schaute er sich die Bilder an. Einer Sache ins Auge sehen, so lautete der Ausdruck. Leiden, Hunger, immer hatte es mit Augen zu tun. Schädel, die einen mit einer Bestürzung ansahen, die nie mehr vergehen würde, Fotos, bei denen man während des Schauens älter wurde. Die schlafenden Obdachlosen unter The Herald Tribune und der Frankfurter Allgemeinen waren ohne Mühe Teil der Ausstellung geworden. Das wenigstens sah nach dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aus. Und mit einemmal wußte er auch, wo er sie finden konnte, denn für El País mußte man ins angrenzende Gebäude, ins Ibero-Amerikanische Institut. Wenn man den Weg kannte, konnte man innen durch. Dann war man mit einem Schritt in Spanien und mit dem nächsten bereits in Buenos Aires, Lima oder São Paolo. Er sah die Nación , Granma , Excelsior , El Mundo , aber El País war nicht da. Die hatte sie.
    »Die hast du schon gelesen«, sagte sie auf spanisch, »es ist die von gestern. Die hinken hier immer hinterher.« Und weg war sie. Schwarzer Pullover. Schultern. Kleine Zähne. Er starrte in den Excelsior , ohne etwas zu sehen. Neue Morde in Mexiko. Etwas, was Zedillo gesagt hatte. Zeugen verschwunden. Die Leiche eines Drogenhändlers. Ihr Akzent war nicht südamerikanisch gewesen, aber auch nicht spanisch. Irgend etwas hatte er wiedererkannt, ohne genau darauf zu kommen, was, ebensowenig wie er etwas über dieses Gesicht hätte sagen können, obwohl er es so gerne wollte. Kompakt, geballt, aber das konnte man von einem Gesicht natürlich nicht sagen. Immerhin hatte sie ihn wahrgenommen, gestern, das war schon eine ganze Menge. Er verfolgte ihre Bewegungen in der Ferne. Zu einer Art Pult, Lampe anknipsen, Lichtschein auf den kurzen Händen, Bücher hinlegen, zurechtrücken, Gefühl für Ordnung. Stift, Block. Jetzt zurück, viel zu nah, aber sie schaute nicht. Sie nicht. Computer einschalten, für einen Moment das graue Nichts ertragen, dann Bilder, Sätze, doch noch zu weit für ihn, um etwas erkennen zu können. Verspringende Reihen, starren, Formulare ausfüllen. Nach vorn, zum Schalter, anstellen. Nicht wippend oder mit den Füßen scharrend wie die anderen, die auf Bücher warteten. Lesend, nicht aufschauend. Formen von Gefräßigkeit. Diese Zähne könnten ein Buch fressen.
    Ein Gespräch mit Erna, auch schon wieder ein paar Jahre her. Über Sich-Verlieben. Ausgerechnet mit Erna, die sich ständig verliebte. Am Fenster, wie so viele ihrer Gespräche. Holländisches Licht auf einem holländischen Gesicht, Licht in Vermeer-Augen, Licht auf einer Vermeer-Haut. Vermeer, dieser geheimnisvolle Maler, hatte etwas mit niederländischen Frauen angestellt, er hatte ihre Nüchternheit verzaubert, seine Frauen walteten über verborgene, verschlossene Welten, in die nicht hineinzukommen war. Die Briefe, die sie lasen, enthielten die Formel der Unsterblichkeit. Auf dem Foto, das Erna von Roelfje hatte rahmen lassen, las sie auch einen Brief, von ihm.
    »Damals warst du in Afrika.«
    Erna dunkler, Roelfje leuchtend blond, beide hätten sie von dem Delfter gemalt worden sein können. Solche Frauen sah man noch immer in den Niederlanden, durchscheinend und zugleich stabil. Das Geheimnis war das des Malers gewesen, er hatte etwas gesehen, was andere nicht sahen, etwas, wodurch man noch immer, wenn man – in Den Haag oder in Washington oder Wien – vor einem seiner Bilder stand, das Gefühl hatte, irgendwo hineingelockt zu werden, durch eine Tür, die sich, sobald man eingetreten war, hinter einem schließen würde. Es war von einer allesverzehrenden Intimität. Wenn er neben anderen vor einem solchen Bild stand, kam er sich immer sehr niederländisch vor. »Aber warum denn, um Himmels willen«, hatte Arno gefragt, »große Kunst gehört doch allen, was hat das denn mit Nationalität zu tun?«
    »Wenn sie aufschauen und etwas sagen würde, könnte ich sie verstehen, du nicht.«
    Er wußte auch, wie diese Stimmen klingen würden, doch das sagte er nicht. Roelfjes Stimme war hoch und hell gewesen, Ernas war schneller, heftiger, vielleicht, dachte er, weil Erna länger gelebt hatte. Stimmen wurden auch älter. Von der Stelle aus, wo er am Fenster stand,

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