Allerseelen
die Menschen, die zu diesen Füßen gehörten, sich vielleicht fragten, was das begierige Auge der Kamera dort unten suchte, vor dieser schmutzigen, gelb gefliesten Wand, zwischen der brackigen Mischung aus Draußen und Drinnen. Anscheinend war es ihnen auch egal. Wahrscheinlich wieder irgend so eine Fernsehgeschichte.
Von allen Kleidungsstücken konnten Schuhe noch am besten Demütigung ausdrücken. Abgetreten, naß, matschig, fahl im samenfarbenen Neonlicht, mußten sie Leute durch die Höhlen der Unterwelt zu ihren pathetischen Zielen tragen und wurden dann abends in irgendeiner dunklen Ecke abgestreift und unter ein Bett geschoben. Eigentlich müßte er auch Schuhgeschäfte filmen, ein Schaufenster nach dem anderen, um sie in ihrem verblüffenden jungfräulichen Zustand zu zeigen, ungeknechtete Schuhe ohne Menschen, noch nirgendwohin gerichtet, noch nicht unterwegs.
Eine Sekunde später waren diese Gedanken wie weggewischt, weil er zwischen all den Schuhen zwei aus Kuhfell gesehen hatte, Stiefeletten an nicht allzu großen Füßen, rotschwarzweiß gefleckt, bunte Kuh, Stiefeletten, die ihn zwangen, hochzuschauen über kräftige, sich schnell bewegende Beine in Jeans, eine Jacke mit großen schwarzen und weißen Karos, einen breiten Wollschal in der Farbe der Fahne, die man hier jetzt nicht mehr sah, und der teilweise, aber zum Glück nicht ganz den Kopf bedeckte, den er gestern noch als Berberkopf bezeichnet hatte. Es war nicht schwer, dem Rot dieses Schals zu folgen. Sie nahm die U 2 in Richtung Ruhleben, stieg am Gleisdreieck in die U 15 um und an der Kurfürstenstraße schon wieder aus.
Er folgte ihr die Treppen hinauf und lief, wie sie, in die plötzliche Falle des Lichts. Er glaubte oder hoffte zu wissen, wohin sie ging, jedenfalls ging sie in die richtige Richtung. Potsdamer Straße in nördlicher Richtung, an dem türkischen Gemüseladen vorbei, wo die Auberginen und gelben Paprikas lagen, als hätte man sie gerade am Nordpol ausgegraben, am Bäcker vorbei, wo er sich immer ein Zwiebelbrötchen kaufte. Dies hier kannte er, das war sein Weg, in der Ferne konnte man bereits die merkwürdige Form, die ockerartigen Farben der Staatsbibliothek sehen. Über der Schulter trug sie eine Segeltuchtasche, in der eindeutig Bücher waren, nein, kein Zweifel. Als gerade kein Verkehr kam, überquerte sie die breite Straße zum rechten Bürgersteig, sehr undeutsch, nicht an der Ampel, wie es sich gehörte, nicht am Zebrastreifen. Sollte er ihr folgen? Was machte er da eigentlich? Was für ein Blödsinn! Wie ein Spätpubertierender lief er hinter einem roten Schal her! Eine unangenehme Situation, die etwas mit Ungleichheit zu tun hatte. Die Person, die verfolgt wurde, war dabei die Unschuldige. Sie war einzig und allein sie selbst, in die eigenen Gedanken versunken, sich des Fremden nicht bewußt, der durch eine unsichtbare Linie mit ihr verbunden war. Er war im Vorteil, er hatte etwas mit ihr, sie nichts mit ihm. Wenn er sich umdrehte, würde sie ihm nicht folgen, soviel war sicher. Er verlangsamte seine Schritte und blieb dann auf der Brücke über den Landwehrkanal stehen. Eisschollen, graue, durchsichtige Placken, reglos im schwarzen Wasser. Und wenn sie stehenbliebe? Aber sie blieb nicht stehen. Jemandem zu folgen war eine Einmischung. Diesmal hatte er ihr Gesicht nicht gut sehen können, das matte Weiß war flächenhaft vorbeigeschwebt. Von gestern erinnerte er sich an den mürrischen Ausdruck, die Narbe. So ein Quatsch. Und er war zu alt dafür. Er mußte einfach tun, was er immer tat, eine Tasse Kaffee oben in der Cafeteria trinken, Kaffee zu einer Mark, Totenwasser aus dem Fluß Lethe, und dann nach unten in die große Halle zurückgehen und die Zeitung am breiten Fenster lesen, aus dem man die Nationalgalerie sehen konnte. Dort schliefen immer ein paar Obdachlose auf Stühlen, eine zerknitterte Zeitung als Alibi über sich.
Er gab seinen Mantel und die Kamera an der Garderobe ab, zeigte den beiden Bewacherinnen, die alles sehen wollten, was man hinein- und wieder hinausnahm, seine leeren Hände und ging nach oben. Seit die Studenten aus dem Osten dazugekommen waren, war es hier viel voller geworden, schließlich saß man hier besser als in der Humboldt-Universität. Iranerinnen mit Kopftüchern, Chinesen, Wikinger, Neger, eine artenreiche Schmetterlingssammlung, die in großer Stille Honig aus den Büchern sog. Sie sah er nirgends.
In der Halle unten waren Fotos ausgestellt, diesmal Lager und Hunger. Es war
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