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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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ihrer Schulklasse, Elik von der Seite, weil sie ihre Narbe vom Auge der Kamera, das immer alles erforscht, abgewandt hat.
    Was sie nicht sieht: Väter, die anders sind als alle anderen Väter, die jeden Abend nach der Arbeit, beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, Bücher lesen und dabei die Lippen bewegen, weil Lesen schwierig ist, die ihre Söhne mit einem Stigma versehen, die von Friedenskongressen in Bukarest, Moskau, Ostberlin, Leipzig, Havanna zurückkehren, die recht haben bei Panzern in Prag, als du fünfzehn bist, die auch bei jedem Schuß an der Mauer noch recht haben, laß die in der Schule nur reden, da mußt du drüberstehen. Irgendwann wirst du es besser verstehen. Es sind alles nur Lügen, hör nicht drauf, genauso wie wieheißternochgleich, und das konnte er dann selbst ergänzen. Dieses Bild war ihm in Erinnerung geblieben, die lockenden Stimmen, der Mann am Mast, mit den Ohren voll Wachs, genauso wie dieses andere Bild ihm in Erinnerung geblieben war, der Mann, sein Vater, den er an einem verregneten Tag wie einen Clown mit einem mageren Stapel Die Wahrheit unter durchsichtigem Plastik an der Ecke des Albert-Cuyp-Markts stehen sieht, inmitten Hunderter, die vorbeigehen, wie er selbst vorbeigegangen war, sich unsichtbar gemacht hatte, um das nicht sehen zu müssen, den Mann nicht grüßen zu müssen, nicht dasein zu müssen. Die letzten Jahre vor seinem Tod hatte sein Vater nichts mehr gesagt. Ein Überzeugter, und folglich bitter gestorben. »Jetzt bekommt Deutschland doch noch, was es wollte. Die kaufen den ganzen Osten auf. Das ist billiger als Krieg. Und von der Partei hier ist nichts mehr übrig als ein paar Schwachköpfe, Lesben und Schwuchteln, die nicht wissen, was Arbeiten ist …«
    Es ist gut. Wir gehen schon.
    *
    * *

Karten auf den Tisch. Dies mußten sie austauschen. Transaktionen. Noch nicht an diesem ersten Tag. Was sie jetzt sieht: wie er sich bewegt. Formen von Unsichtbarkeit, weil man die für irgend etwas braucht. Sogar in der kurzen Schlange verschwindet er ein wenig, trotz seiner Größe. Abwesenheit als Methode. Als er mit dem Kaffee zurückkommt, schiebt er ihr eine Tasse hin, seine bleibt noch unangerührt, er legt seine Hände daneben wie Dinge, übereinander. In einem Museum in Paris hat sie mal eine bronzene Hand gesehen, Klassenreise, Französischlehrerin, »Schaut, schaut! Voilà, die Hand von Balzac! Mit dieser Hand hat er die Comédie humaine geschrieben, mes enfants!«
    »Ja, und mit dieser Hand hat der Dicke alle seine Mätressen von innen beguckt.« Hatte sie das gesagt? »Und sich den Hintern abgewischt«, hatte jemand anders zu deutlich geantwortet. Wieder ein verkorkster Nachmittag in musealer Stille. Diese Hand, tot und tatenlos, Bronze, auf einem offenen Buch, Buchstaben mit dieser toten, abgehackten Hand geschrieben, Buchstaben aus bleicher Tinte. Gräßlich. Zum erstenmal eine Ahnung, was Hände sind. Instrumente, Diener, Helfershelfer. Bei Gutem wie bei Bösem. Musiker, Chirurgen, Schriftsteller, Liebhaber, Mörder. Männliche Hände. Sie legt ihre Hand neben seine, um den Unterschied zu sehen. Er berührt sie kurz, vielleicht-eigentlich-nicht-aber-doch, und zieht seine dann zurück. In den darauffolgenden Sätzen hört er zum erstenmal, wie bei ihr nicht die Reihenfolge der Wörter angibt, daß es sich um eine Frage handelt, sondern der Ton. Kann man ein Fragezeichen sprechen?
    ?
    »Filmemacher, na ja, Filmakademie. Manchmal ja. Und Dokumentarfilme. Kameramann. Noch immer, wenn’s sich gerade so ergibt. Eigenes? Ja, manchmal ja.«
    ?
    »Spanisch. Hab schließlich ’nen Vorsprung. Geschichte. Dissertation. Sagt dir doch nichts. Königin, Mittelalter. León, Asturien. Urraca. Ja, mit zwei r. Zwölftes Jahrhundert.«
    Jedes menschliche Beisammensein ist Politik. Wer hatte das gesagt? Informationen geben, zurückhalten, Transaktionen. Aber er tauscht keine betrunkene Mutter gegen eine tote Frau. Noch nicht. Und was für Säle, Krypten, Keller, Dachböden verwaltet sie? Keine weiteren Fragen, keiner von beiden. Noch eine.
    »Und diese Referenz?«
    »Ich wollte gern mit dir sprechen.«
    Sie schaut ihn an, sieht nicht, was er sonst noch nicht sagt. Was er filmt? Er denkt an seinen letzten Auftrag, vor zwei, drei Monaten.
    »Ja, dafür hätten wir dich gern.« Eine niederländische Stimme. »Wir haben im Moment keinen Kameramann. Aber ich sag’s ganz ehrlich, du mußt wirklich wollen, es ist ein Drecksjob, nimm dir bloß eine Wäscheklammer mit. Du kannst von

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