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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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hör doch mal auf mit deinen ewigen Wörtern.« Erna.
    Wohnst du in Berlin? Was studierst du? Wie lange bist du schon hier? Ich dachte, du bist Spanierin. Das alles sagte er nicht.
    »Lebt deine Mutter noch?«
    »Nein. Die hat sich zu Tode getrunken.«
    Und dein Vater hat sich erhängt, wollte er sagen, aber das war schon nicht mehr nötig. Vater unbekannt, Nordafrikaner, Maghreb, Kellner in einer Bar in Spanien, Mutter wie üblich betrunken, Elik.
    Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter wurde mit dazugeliefert.
    »Wie sah mein Vater aus?«
    »Keine Ahnung. Ich habe dann gleich woanders gewohnt.«
    Irgendwo anders, aber in Spanien. Daher das Spanisch.
    Jetzt mußte er vielleicht auch etwas erzählen, aber sie schien nicht neugierig darauf.
    »Ich hab dir doch keinen Schrecken eingejagt?« Sondierung, Sarkasmus?
    »Nein, nicht richtig. Aber ich kann mit so was nicht aufwarten. Meine Mutter ist Ende Siebzig und pusselt in ihrem Garten in Loenen rum. Mein Vater ist tot.«
    Aber er hatte die Vision eines Mannes, der ihr glich. Bergdorf, rote Lehmmauern. Rif oder Atlas. Schnee auf den Gipfeln. Kalt; klare Luft. Berberkopf. War gar nicht so schlecht gewesen.
    »Warum lachst du?«
    Er beschrieb es. Sie hatte eine andere Version. Ein Mann in einem nicht übermäßig sauberen Oberhemd, der mit einem nassen braunen Lappen einen Tisch abwischte. Tanger, Marbella.
    »Bist du nicht neugierig?«
    »Nicht mehr. Wenn er mich jetzt sähe, würde er Geld wollen für alle meine lieben Brüder und Schwestern in Tinerhir oder Zagora. Oder nach Holland kommen. Familienzusammenführung.«
    Zagora, der Kamelmarkt, mal gefilmt. Kamele werden liegend geschlachtet. Oder nannte man das sitzend? Kniend war vielleicht der richtige Ausdruck. Sie wurden gezwungen, sich auf die Knie zu lassen, und hockten dann dumm auf dem trockenen Boden, die großen Köpfe vorgestreckt, jemand schnitt ihnen die große Kehle durch, das Blut lief in den Sand. Das ging ja alles noch. Die wirkliche Überraschung war, daß dann das Fell mit einer langen Bewegung aufgeschnitten wurde, der Länge nach über den Rücken mit den albernen Buckeln, und daß dann noch ein Kamel daruntersteckte aus glänzend blauem Plastik, das den Kopf in den Sand gelegt hatte. Dies jetzt nicht erzählen.
    »Möchtest du noch einen Kaffee?« Sie sieht ihm nach. Er ist größer als die meisten anderen in der Schlange.
    *
    * *

Was sie nicht sieht. Was er nicht sieht. Jedes dieser beiden Leben zerfällt in eine unendliche Reihe von Bildern. Der Film ist aufgegliedert worden, zurückgespult, an willkürlichen Stellen angehalten. Das alles ist völlig normal, das kennen wir. Die unsichtbare Vergangenheit, die sich in Erinnerungen entlädt, bis wir genau bei dem Körper, der Haltung, der Strategie des Jetzt gelandet sind, eine Frau an einem Tisch in einer Cafeteria in Berlin. Die Strecke von irgendwann in Spanien wurde nonstop zurückgelegt, Schlaf zählt nicht. Das ist die durchwatbare Stelle, Träume, Schlamm, Kristall. Der Gang ist nicht aufzuhalten. Was nicht da ist, ist das, was noch folgen muß.
    Was er nicht sieht: Das zehnjährige Kind, in die Niederlande geholt und von der Mutter ihrer Mutter großgezogen. Einzelgängerisch. Das hat er bereits gesehen. Sprache, Sprache, hilfreiche Sprache: ein einzelgängerisches Kind. Und auch das hätte er wiedererkannt auf all den Standfotos: zwölf, vierzehn, sechzehn, noch mit anderen, dann allein, jemand, der etwas beschlossen hat. Und davor: eine Achtjährige, die in einem spanischen Zimmer mit dünnen Wänden Geräusche speichert aus dem Nebenzimmer. Die bekannte Stimme, weinerlich langgezogene Laute, dann die andere, die Männerstimme, die sie nicht kennt, jedesmal eine andere, manchmal auch wieder dieselbe. Dann einmal nicht der plötzliche Schrei oder das hartnäckige Summen, Zischen, Murmeln, diesmal Schläge, Gewimmer, Schritte auf dem Flur, eine dunkle Gestalt, die bei ihr aufs Bett fällt, keuchend, nach Alkohol stinkend, ein großer Kopf, eine Berührung, vor der man flüchten muß, schreien, Nachbarn auf dem Flur, der Schmerz, der brennende Schmerz, das Muttergesicht, das durchs Zimmer fällt, Männer in Uniform, Gekreisch, der Schmerz, der nicht vergeht, der in deinem Gesicht, deinem Körper weiterbrennt, und später, in dem kühlen Zimmer in Holland, in den so stillen Nächten, der quälende Aufmarsch der Bilder, immer dieselben. So wird man zur Ausnahme, das Gesicht auf dem Foto, neben dem später das kleine Kreuz steht, Elik in

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