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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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gegessen, aufrecht am Tisch gesessen. Danach eine Tasse Tee gekocht, an den rosa Mund gedacht, wie der sich geöffnet hatte, gelacht hatte. Nur ganz kurz. Ob sie jetzt auch irgendwo aß? Heute abend hierbleiben, niemanden anrufen. Und kein Cage jetzt. Der Freund hatte einen Schrank voller CDs, er hatte sich Varèse herausgesucht, diesen eigenartigen Chor in Ecuatorial , all diese Männerstimmen, als stünde ein ganzer Chor hier im Zimmer. Das nächste Stück hörte er sich mehrere Male an, es war nur kurz, Fanfaren, Peitschenhiebe, Sirenen. Danach war die Stille jedesmal stiller. Später, im Radio, hörte er, daß es jetzt taute, in der Nacht wieder frieren und morgen weitertauen würde. Wenn er auf die Straße ginge, sähe er Ballett, eine chaotische Choreographie. Pirouetten, plötzliche Horizontalität, wie bei ihm selbst zweimal an diesem Tag, unwürdige Haltungen, Autos in rutschender Verlangsamung, albern. Paßt hier nicht her. Es gehört sich nicht, daß Deutsche ausrutschen. Das war also ein Vorurteil. Passen Sie auf, hatte der alte Mann gesagt. Aber da war es bereits zu spät gewesen.
    Er las, was er sich aus der Enzyklopädie herausgeschrieben hatte, ein merkwürdig dürres, abgehacktes Spanisch. Urraca. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Das bedeutete auch Elster. Er war immer neugierig auf Vogelnamen. Als Laut war es treffend, dieses Harte, Knarrende, obgleich es sich vielleicht doch eher nach Raben, Krähen anhörte. Urráca. Königin Elster, Elik, irgendwas war mit diesen kurzen Wörtern. Elster, die Diebin. Stahl alles, was glänzte. Doch das alles stand nicht in der Enzyklopädie. Erste Frau, die über ein spanisches Königreich regierte. Bürgerkrieg, Bedrohung durch den Islam von Süden, wie kam man auf so etwas? 1109-1126, was konnte man darüber schreiben? La reina Urraca, ra, kra. Und eine plötzliche Sehnsucht, auch schon das zweite Mal an diesem Tag, nach Spanien, Leere, Aragón, León.
    »Kannst du denn nie mal ein paar Monate an einem Fleck bleiben?«
    »Nein, Erna.«
    Er versuchte an sie zu denken als an jemanden, der eine Dissertation schrieb, doch das gelang ihm nicht. Frau Doktor mit Narbe und Pelzstiefelchen. Frau Doktor Elster. Elster, der Wintervogel, schwarz und weiß, wie die Stadt jetzt. Der Vogel, der auf einmal ein wenig singen konnte, wenn er brütete, und sonst nur schrie, als sei er immer nur böse. Mit geschlossenen Augen sah er es, sogar der Schwanz war böse, mit diesem fortwährenden giftigen Gewippe. Flog im übrigen auch komisch, Wellenflug hieß das, in großen Schwüngen über eine Winterlandschaft, in den zugefrorenen, verschneiten Gärten von Schloß Charlottenburg. Wollte er doch jemanden anrufen? Nein, er wollte niemanden anrufen. Er öffnete einen großen Schrank, holte verschiedene Filmdosen heraus, sah auf die Aufschriften, stapelte sie auf einem Tisch, bis sie einen hohen Turm bildeten, und legte, der Männerstimmen wegen, noch einmal Varèse auf. Irgendwo in diesem Schrank mußten noch Tonaufnahmen von einem Film liegen, den er mit Arno über Klöster gemacht hatte, eine französisch-deutsche Koproduktion für Arte. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er nichts über Klöster gewußt, und auch jetzt wußte er noch nicht, was er davon halten sollte. Die Mönche, junge wie alte, hatten relativ normal ausgesehen. Deutsche, französische und spanische Mönche, Beuron, Cluny, Veruela, Aula Dei, Benediktiner, Trappisten, Kartäuser, aussterbende Tierarten, die man an ihren Gewändern erkennen konnte, die Trappisten schwarzweiß, wie Elstern, im Chor jedoch weiß, wenn die Kutten alt wurden, sahen sie aus wie alte Schwäne. Die Benediktiner schwarz wie Krähen und die Kartäuser wieder weiß, aber die hatte er nicht im Chor filmen dürfen. Dafür einmal in der Zelle, denn im Gegensatz zu den anderen Orden aßen Kartäuser allein, was etwas sehr Trauriges hatte. Sie bekamen ihr Essen durch eine Luke geschoben. Er hatte es von innen nach außen und von außen nach innen gedreht, den kahlen Raum ohne irgend etwas darin, eine Art Altar mit einer Marienfigur, ein Gärtchen daneben, der Tisch an die Wand hochgeklappt, neben der Luke, die konnten sie herunterlassen, wenn das Essen gebracht wurde. Draußen an der Luke war ein Holzklotz angebracht, den man in drei verschiedene Stellungen drehen konnte, er sah es noch vor sich: ein Brot, ein halbes Brot, kein Brot. Un pan, medio pan, no pan. Es gab also immer jemanden, der wußte, ob man viel oder wenig aß. Das hatte ihm, mehr noch als

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