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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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der geschlossene Raum, ein klaustrophobisches Gefühl eingeflößt.
    Bertrand, der französische Tontechniker, konnte alles erklären, die Zeiten und Namen der Stundengebete, den ganzen, ewigen, zwanghaften Zyklus des sich nie verändernden Tages, des sich nie verändernden Jahres, »l’éternité quoi«, das war ziemlich stolz herausgekommen, als wäre Bertrand persönlich der Besitzer dieser Ewigkeit. Ein paarmal im Jahr trat er in die Ewigkeit ein, dann wurde er nach seinen eigenen Worten zum Mönch und verbrachte einige Wochen in einem Kloster in der Normandie bei den Benediktinern, »die singen nämlich am schönsten«. Arthur und Arno glaubten ihm, denn Bertrand besaß eine Eigentümlichkeit, mit der sie nicht recht umzugehen wußten: Er trank jeden Freitag nur Wasser und aß an dem Tag überhaupt nicht. »Oh, dafür ist er berühmt«, hatte die rothaarige Producerin der Sendung gesagt, »bei uns heißt er nur ›Bertrand le moine‹, aber jeder will mit ihm zusammenarbeiten, weil er so gut ist.«
    Letzteres stimmte. Von Zeit zu Zeit legte Arthur dieses Band noch mal ein, doch stärker als der Ton hatte ihn Bertrands Arbeitsweise beeindruckt, wie er mit seiner sechs Kilogramm schweren Nagra herumgeschlichen war, als wäre es eine Feder, ein Raubtier auf der Jagd mit diesem flauschigen Zylinder wie eine große tote Ratte ohne Kopf am Ende der Tonangel, fast zwischen den Sandalen der Mönche auf dem Weg zum Chor, das alltägliche Schlurfen, das sie schon längst nicht mehr hörten, plötzlich gesteigert zu einem absoluten Laut, ein unausweichlicher Auftakt zu der Stille und dem Gesang, die danach kommen würden. Und mit einemmal konnten sie sich Bertrands merkwürdige Ferien vorstellen, denn er stand da als Mönch zwischen den Mönchen und ließ die Psalmen hereinfluten, ein immerwährender Wellenschlag.
    »Aber warum gehst du dann nicht ganz ins Kloster, Bertrand?« hatte Arno mit seinem dicken deutschen Akzent gefragt, wodurch es fast schien, als werde Bertrand verhört.
    »Weil ich noch verheiratet bin und Kinder habe«, sagte Bertrand.
    »Und eine Mätresse und noch ein Kind«, sagte die rothaarige Producerin, »n’est-ce pas, cher Bertrand?«
    »Die Mätresse ist nicht das Problem«, sagte Bertrand. »Meine Frau ist das Problem. Als Katholiken können wir uns nicht scheiden lassen, und solange man verheiratet ist, kann man nicht ins Kloster. Eine Mätresse zählt nicht. Das ist eine Sache des Beichtens und Abschiednehmens. Aber die Ehe, die ist ein Sakrament.« Daraufhin hatte sich Arno an Ort und Stelle einen »Tatort« ausgedacht: Bertrand mußte seine Frau ermorden, denn als Witwer konnte er ins Kloster gehen. Jahre danach würde jemand dahinterkommen, die Spur führte ins Kloster. Arno freute sich schon auf das Verhör durch den Kommissar.
    Doch Bertrand glaubte nicht, daß er seine Frau ermorden wollte. Viel zuviel Scherereien.
    »Das gibt nur Probleme. Ich hätte einfach viel früher eintreten müssen.«
    Über die Mätresse hatten sie damals nicht mehr gesprochen, und alle diese Sorgen waren auf dem Senkel nicht zu hören gewesen. Die Aufnahmen der gregorianischen Gesänge waren von einer schaurigen Präzision. (»Ach, früher! Als sie noch lateinisch sangen! Auf französisch klingt es viel zu tuntenhaft, Spanisch kommt dem viel näher.«) Bertrand hatte sogar einen Prix de Rome dafür bekommen.
    »Nein, nein, das hat nichts mit Präzision zu tun, dieser Ton, diese Gesänge erklingen schon seit Jahrhunderten in diesen Räumen, was du hörst, ist das Röcheln der Ewigkeit, aeternitas, ich höre immer die ganzen Nullen. Darin besteht die Kunst: daß ich das hörbar mache, Zeit und Zeitlosigkeit zugleich. Ich werde dir irgendwann mal vorspielen, was ich früher aufgenommen habe. Lach mich nicht aus, aber das Latein klang ewiger … hör mal.« Er warf sich in die Brust und sang: » Domine … oder das: Seigneur , Altdamenstimme, ersterbend, den Unterschied hört man doch, oder etwa nicht?«
    Aber als sie in Beuron waren, fand er Deutsch auch nicht schlecht.
    »Zumindest männlicher als Französisch. Aber wenn sie mit diesen gutturalen Stimmen auch noch lateinisch singen würden, kannst du dir das vorstellen?« Und er versuchte, einen deutschen Akzent in das Latein zu legen: » Procul recedant somnia …«
    »Hier in Beuron war Heidegger oft«, sagte Arno. »Hier in der Nähe war er Meßdiener gewesen, in Meßkirch. Er hat sich nie ganz davon lösen können. Hat seine Initialen in die Kirchenbank

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