Allerseelen
völlig gegenwärtig, nicht auszulöschen. Wir kennen den Pergamonaltar aus der Zeit, als er noch neu war, zweitausend Jahre, viertausend Jahre, alle Erinnerungen sind für uns gleichzeitig. Alle diese Museen sind Kraftwerke, und wir, die wir so leicht sind, kennen die Schwere von allem, was in ihnen steht. Ja, das hat verdächtig viel Ähnlichkeit mit Allmacht, aber was soll’s? Man könnte es auch als Last bezeichnen. Ein Schild aus Neuguinea, ein Gemälde von Cranach, eine Papyrusrolle, die Stimme Laforgues, die Kaiserin Augusta im verschwundenen Schloß vorliest, alles ist für uns Gegenwart. Ja, es irritiert natürlich, nicht zu wissen, wer wir sind, aber ihr könnt uns wirklich jeden Namen geben, Hirngespinst ist auch in Ordnung, es stimmt und es stimmt nicht. Ursache, Motor, gleichzeitige Erinnerung, das mag vielleicht ein Paradoxon sein, paßt aber zur Gedächtniskirche dort drüben. Die sehen wir gleichzeitig so, wie sie war, und als Ruine, Loch, ausgehöhltes Monument. Ihr braucht euch nicht um uns zu kümmern, wir sind immer da mit dieser Last, ihr aber habt nur jetzt etwas mit uns zu tun, in diesem Abschnitt, in dieser Geschichte, die im übrigen erst zwei Tage alt ist. Nur jetzt, da ihr uns hört oder lest, darüber hinaus existieren wir für euch nicht, es sei denn als Möglichkeit. Jetzt, hier, wo die Stadt dunkler ist, Falkplatz, dieselbe Stadt, aber anders, farbloser, geschundener, verwahrlost. Eine hohe Treppe, ein Zimmer, jemand in einem Bett, nicht schlafend, sondern mit weit geöffneten Augen vor sich hin starrend. Ja, das wissen wir genau, aber das tut jetzt nichts zur Sache, der auf nichts gerichtete Blick sagt viel mehr. Ihre Hand liegt auf dem Buch, in dem sie gerade gelesen hat, und auch dieses Buch strahlt etwas aus, vage Geschichten, plötzliche Lichtpunkte, Zahlen, Fakten, und dann wieder zurück zu Vermutungen, Annahmen, deren Wahrheitsgehalt wir kennen und dieses Buch nicht, diese Geschichte hat sich vor zu langer Zeit abgespielt. So etwas wie eine Ausgrabung, bei der lediglich ein Viertel oder noch weniger von dem gefunden wird, was einmal da war. Und selbst dann – selbst wenn ihr alles wüßtet, was wir wissen – könntet ihr nicht damit umgehen. Wir können nichts resümieren, konzentrieren, abstrahieren. Bei uns hat alles seine Länge, sein eigenes spezifisches Gewicht. Besser, wir halten uns an das Einfache. Es ist leicht, eine Verbindungslinie zwischen diesen beiden stillen Zimmern zu ziehen, schließlich ist etwas passiert. Doch sobald wir etwas über die Zukunft sagen, werden unsere Stimmen unhörbar, weil es die Zukunft nicht gibt, ja, lassen wir es dabei bewenden. Seht ihr, wie unruhig sich diese Hand bewegt, während der Kopf so still ist? Etwas möchte die Hand aus dem Buch ziehen, doch wie bekommt man aus Papier und Wörtern einen lebenden Kern, eine Macht, einen Körper, hier, jetzt, ohne den Schimmel einer Vergangenheit, einer Zeit, die vergangen ist?
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Falls es so war, daß Arthur Daane an Elik Oranje dachte, so war es umgekehrt nicht der Fall. Elik Oranje war mit ihrem Kopf, der tatsächlich sehr still auf dem Kopfkissen lag, bei den Vorlesungen, die sie zur Zeit in Berlin besuchte, eine zehnteilige Vorlesungsreihe, für die sie vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ein Stipendium erhalten hatte. Der Professor war ein staubtrockener Redner, aber etwas, was er gesagt hatte, ließ sie nicht los. »Wenn du in einem Zug sitzt« – so eine Art von Satz war es gewesen. Die Vorlesungen gingen über Hegels Geschichtsphilosophie. Sie konnte sich meist nicht lange darauf konzentrieren, verspürte einen holländischen Widerstand gegen das, was sie »Paragraphendenken« nannte, und außerdem sah der Mann verknöchert aus und sprach mit sächsischem Akzent, so daß sie ihn nicht immer gut verstehen konnte. Manchmal aber, wie zum Beispiel bei diesem einen Mal, hörte sie seinem Ton an, daß eine Rettungsinsel in Sicht war, eine Anekdote, persönliche Anmerkung, Ausweichmöglichkeit aus der doktrinären Masse, der einst, in ebendieser Stadt, junge Männer ihres eigenen Alters mit soviel Begeisterung im Vortrag des Meisters persönlich gelauscht hatten.
»Wenn du in einem Zug sitzt und nicht aus dem Fenster schaust, sondern dir die Mitreisenden ansiehst, dann machst du dir, vielleicht durch das, was sie sagen oder lesen, aber auch durch ihre Haltung, ihre Kleidung, ein Bild von ihnen. Würdest du dieses Bild nun aufschreiben, so würdest du wahrscheinlich denken, daß
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