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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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du damit ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild gezeichnet hast. Du hast sie schließlich wirklich gesehen, vielleicht sogar mit ihnen gesprochen. Aber wenn du das jetzt umdrehst und dir vorstellst, daß einer von ihnen dich genauso aufmerksam beobachtet hat wie du ihn oder sie, inwieweit ist das Bild, das derjenige von dir hat, ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild? Du weißt selbst, wieviel du dir nicht anmerken läßt, was du verheimlichst, verbirgst oder was du noch nicht einmal für dich selbst definiert hast – weil es nun mal auch Dinge gibt, die ein Mensch vor sich selbst geheimhält, leugnet, nicht wissen will. Dazu kommt dann noch das ganze Arsenal an Erinnerungen, der Bereich des Gesehenen und Gelesenen, die Welt der verborgenen Wünsche … der ganze Zug wäre nicht groß genug, das alles aufzunehmen. Trotzdem glaubt jeder der drei oder sechs Fahrgäste in diesem Abteil, daß während dieser Reise eine, wie soll ich das sagen, irgendeine Manifestation der Wirklichkeit stattgefunden hat. Aber stimmt das denn auch?«
    Von hier war er auf das fiktionale Element in der Geschichtsschreibung zu sprechen gekommen, sogar bei Menschen, die sich so strikt wie möglich an die Fakten hielten. Doch was waren Fakten? Ohne den Kopf zu drehen, griff sie nach dem Buch, das auf ihrem Bauch lag, und hielt es sich vor die Augen. Ein graubeiger Umschlag, und darauf das verschwommene Foto eines Flusses. Im Vordergrund Schilf, das, wie es schien, vom Wind bewegt wurde. Wolken waren nicht zu sehen, aber die hatte wahrscheinlich der Umschlaggestalter weggenommen, um Platz für den Titel und den Namen des Verfassers zu schaffen, Bernard F. Reilly, The Kingdom of León-Castilla under Queen Urraca, 1109-1126. Am jenseitigen Flußufer Gebäude mit schwarzen Fensterhöhlen, ein paar dunkle Baumformen, ein hohes Gebäude mit einer Säulengalerie, ein Turm, ein hoher Anbau, die Zitadelle von Zamora, vom Südufer des Duero aus betrachtet.
    »Warum willst du eigentlich überhaupt promovieren«, hatte ihr Doktorvater gefragt, als wäre sie mit einem unschicklichen Ansinnen an ihn herangetreten.
    »Weil es ja doch keine Lehrerstellen gibt«, hatte sie gesagt, aber das war nur die halbe Wahrheit. Das bißchen Unterricht, das sie ab und zu als Vertreterin hatte geben können, hatte ihr überhaupt nicht gefallen, und sei es nur deshalb, weil sie ständig das Gefühl hatte, sich in der Klasse auf der falschen Seite der Trennungslinie zu befinden, daß sie lieber noch dort gesessen hätte, wo die anderen saßen, wo alles noch undefiniert war, unreif, chaotisch, jedenfalls wenn man es mit der unausstehlichen Reife im Lehrerzimmer verglich, mit den Kollegen und ihrem vorgezeichneten Leben. Ein Teil ihrer Jugend war ihr, wie sie fand, bereits gestohlen worden, was noch davon übrig war, wollte sie so lange wie möglich auskosten. Freiheit und Unabhängigkeit waren es ihr wert, von fast nichts zu leben, und die Dissertation war ein perfektes Alibi, genauso wie die Vorlesungen dieser Trantüte, die ihr eine Reise nach Berlin verschafft hatten. Dafür nahm sie Hegel in Kauf. »Daß du dir, bei deinem Hintergrund, Spanien ausgesucht hast, verstehe ich ja, aber warum ausgerechnet diese obskure mittelalterliche Königin? Eine Königin von was eigentlich?«
    So hatte die nächste Frage des Doktorvaters gelautet, und die Antwort war natürlich ein Kinderspiel gewesen. »Erstens, weil sie eine Frau ist« – dagegen konnte heutzutage keiner mehr etwas sagen –, »aber gerade auch deswegen, weil sie so unbekannt ist. Und es ist sehr spannend …«
    Spannend war es sicherlich, eine Frau zwischen Männern, Bischöfen, Liebhabern, Ehegatten, Söhnen, ein großer Kampf um Macht, Position, die einzige mittelalterliche Königin, die dort tatsächlich regiert hatte.
    »Aber gibt es denn genug Material? Wann war das noch mal genau?«
    »Frühes zwölftes Jahrhundert. Und es gibt sehr viel Material.«
    »Verläßliches oder nebulöses? Ich kenne mich da nicht so aus, es ist im Grunde nur ein Randgebiet. Und es bedeutet natürlich auch, daß ich mich darin vertiefen muß.«
    Nicht nötig, hatte sie sagen wollen, ich geb’s fix und fertig ab, aber ich habe vor, sehr lange daran zu arbeiten, doch das hatte sie natürlich nicht gesagt. Diese Königin war die Garantin ihrer Freiheit, jedenfalls für einige Jahre, und dafür war sie dankbar. Königin Elster. Sie hatte sich bereits dabei ertappt, wie sie mit ihr sprach. Elik Schildknappe. Wie sie wohl ausgesehen

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