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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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geritzt. Jemand hat ihn mal beobachtet, wie er sich mit Weihwasser bekreuzigte, und hat ihn gefragt: ›Warum machen Sie das? Sie glauben doch nicht mehr daran?‹
    ›Nein‹, hatte Heidegger geantwortet, ›aber wo so viel gebetet worden ist, da ist das Göttliche in einer ganz besonderen Weise nahe.‹
    Aber was ist das Göttliche ohne Gott?« Dabei hatte er leicht hilflos durch seine dicken Gläser geschaut, und der Mönch, der sie begleitete, hatte plötzlich gesagt, »ach, so absonderlich ist das nun auch wieder nicht. Hier finden es offenbar auch Menschen, die an nichts glauben, behaglich. Und außerdem, Sein zum Tode ist an sich nicht so rätselhaft, das tun wir auch, allerdings mit einem Unterschied: Heidegger war die Angst, und wir sind die Hoffnung. Vielleicht besucht die heldenhafte Angst ja von Zeit zu Zeit gern mal die ängstliche Hoffnung, vor allem, wenn dabei noch gesungen wird. Um die Angst kann man schließlich kein Ritual aufbauen.«
    »Da bin ich mir nicht so ganz sicher«, antwortete Arno. »Was ist mit den Reichsparteitagen in Nürnberg?«
    »Ja, das genau habe ich gemeint«, sagte der Mönch. »Die finden doch nicht mehr statt, oder? Das hier« – er beschrieb eine Armbewegung, als wolle er den ganzen Klostergang, auf dem sie gerade standen, schützend um sie herumziehen – »ist doch eine relativ zähe Substanz … Wenn ich Heidegger lese …« Er beendete seinen Satz nicht.
    »Dann sind Sie froh, daß Sie abends wieder zwischen den Chorbänken stehen«, sagte Arno.
    »So ungefähr«, sagte der Mönch. »Vielleicht bin ich auch froh, weil ich weiß, daß an allen möglichen Orten der Erde noch ein paar Menschen zur gleichen Zeit dasselbe singen.«
    »Und dasselbe denken?«
    »Vielleicht. Nicht immer.«
    »Geborgenheit?«
    »Oh ja, natürlich.«
    »Aber finden Sie es dann nicht merkwürdig, daß er sich zwar an Ihrer Geborgenheit erfreute, sie für sich selbst aber nicht wollte?«
    »Merkwürdig nicht, aber vielleicht … mutig, falls das das richtige Wort ist.«
    »Sie könnten auch sagen, daß ihm einfach die Gnade nicht zuteil wurde. So heißt das doch?«
    »Ja, so heißt das. Und das müßte ich auch sagen … nur, zu ihm paßt das nicht, obwohl ich das natürlich nicht denken – und folglich auch nicht sagen darf.«
    Auf dem Rückweg hatte Arno Bertrand den Verlauf und Arthur den Inhalt des Gesprächs erklären müssen, denn ersterer verstand kein Deutsch, und letzterer hatte es nur zur Hälfte begriffen, und das mit der Gnade gar nicht. Danach hatte Arno vor sich hin gesummt, irgend etwas, das zwischen Gregorianisch und Pompompom lag, und hatte dann plötzlich gesagt: »Die Idee! Stell dir vor, Elfriede ist gestorben, und Heidegger tritt bei den Benediktinern in Beuron ein. Dieser Skandal! Phantastisch! Noch schöner als Voltaire auf dem Sterbebett! Und trotzdem hatte dieser Mönch mehr recht, als er glaubte. Heidegger war ein metaphysischer Zirkusartist. Er hing ganz oben im Zelt des philosophischen Zirkus am Trapez und machte seinen Salto mortale über dem abgründigen Nichts, und alle hielten den Atem an, weil sie glaubten, es gebe kein Fangnetz. Aber es gab doch eines, für die anderen unsichtbar, und natürlich nie in die philosophischen Protokolle aufgenommen, weil es nicht um die Gesetze der Theologie ging, sondern um das religiöse Gefühl, ein älterer Herr, der sich an einer anderen Antwort auf dieselben Fragen wärmt; vielleicht war es auch nur eine Anhänglichkeit an heimatliche Erinnerungen, an den Himmel von Meßkirch, das hielt ihn mehr, als er sich eingestand. Genau wie Bertrand, n’est-ce pas, Bertrand?«
    »Genau wie Bertrand, aber anders«, sagte Bertrand, und er sagte es so, daß Arthur Daane jetzt, mehrere Jahre später, in seinem Berliner Zimmer noch darüber lachen mußte. Er löschte das Licht, blickte noch eine Weile auf die sich bewegenden Gestalten hinter den anderen Fenstern, bis auch dort die Lichter ausgingen. Er glaubte nicht, daß er am nächsten Tag in die Staatsbibliothek gehen würde.
    *
    * *

Und wir, sind wir noch zu irgend etwas nütze? Es ist uns natürlich schon längst aus den Händen geglitten, sofern es sich überhaupt je darin befunden hat. Wir vollziehen diese Bewegung mit Leichtigkeit, über die vereiste, verschneite, zugefrorene Stadt, über die Spree, über die Narbe, die Ritze, die Furche, wo einst die Mauer stand. Wir vergessen nichts, sogar die entfernteste Angst, Stimmung, Bedrohung von damals und einst ist für uns eine Tatsache,

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