Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
aufblasen, bis sie so groß war wie die Stadt selbst, er sollte seine Kamera nehmen, mit dem Taxi zur Staatsbibliothek fahren, schauen, ob sie da war, und dann Arno anrufen, fragen, ob er sich sein Auto leihen dürfe, und sie mitnehmen zur Glienicker Brücke, zum Halensee oder zur Pfaueninsel.
    *
    Er war immer der Meinung gewesen, wenn er mal eine Musik bräuchte, um Tempo auszudrücken, dann müßte es etwas von Schostakowitsch sein. Victor hatte ein paar seiner Stücke gespielt, und er hatte Bewegung dabei gesehen, Wasser, das schnell über Felsen strömt, laufende Tiere, eine Verfolgung. Zwar kam bei ihm davon nicht soviel vor, aber er versuchte trotzdem, eine Liste mit Musikstücken anzulegen, die ihm eines Tages von Nutzen sein konnte. Am liebsten Chormusik oder, das genaue Gegenteil, Musik mit mehreren Instrumenten, zum Beispiel so etwas, was er gerade gehört hatte. Doch Victor hatte sich nicht sehr bereitwillig gezeigt. »Nummer 11, Nummer 12, Präludien und Fugen, welches Stück meinst du?«
    »Was du als erstes gespielt hast, was so hinter sich her rennt.«
    »Das war Nummer 11, in H-Dur.«
    »H-Dur sagt mir nichts, aber 11 kann ich mir merken.«
    »Und das legen wir dann unter den Film, Bild deckt sich mit Ton, plum plum? Schafft der Film es nicht allein? Zeichen von Schwäche.«
    »Es geht nicht um irgendeine Begleitung, sondern um Steigerung. Oder um den Kontrast.«
    »Wie bei Brecht. Große Tragödie, die Unterdrückten leiden, aber die Musik macht tschingderassabum.«
    »Bei mir gibt es keine Unterdrückten.«
    Darauf hatte Victor keine Antwort mehr gegeben. Oder, besser gesagt, er hatte mit den Achseln gezuckt und, höchst trocken, Nummer 13 gesagt und ein sehr meditatives Stück gespielt. Erst nach dem letzten Takt sagte er, allerdings in einem Ton, als wäre Arthur nicht mehr im Zimmer: »Ein Idiot, ein Idiot. Wie kann jemand bloß, der so etwas macht, auch solche scheußlichen Symphonien schreiben?«
    Und warum er daran dachte? Weil er mit der Kamera die Treppe hinunterrannte, auf die Straße, um die Ecke, Wilmersdorfer, Bismarckstraße, wenn die Ampel nicht gegen ihn war, saß er genau bei den letzten Noten von Nummer 12 im Taxi, dann hatte er 12 und 13, um über diesen unsinnigen Plan nachzudenken. Er kannte die Serie jetzt auswendig, 14 war kurz, alles zusammen eine halbe Stunde, dann lieferte Nummer 15 genau die abrupten, erregten Hammerschläge, die für den Fall nötig waren, daß sie da war. Aber der Dirigent an der Garderobe spielte nicht mit.
    »Die Kamera müssen Sie ins Schließfach tun, damit können Sie nicht rein.«
    »Ich will nur schnell einen Blick reinwerfen.«
    »Nicht in Preußen, Dodo.« Victor.
    Er ging ohne Kamera hinein. Sie sah ihn wie eine Geistererscheinung an. So heißt das wohl, aber es war natürlich genau umgekehrt. Sie war es, die mit Geistern verkehrte. Ihre Königin ist besiegt und wird fast von dem Mann gefangen, mit dem sie verheiratet ist und den sie bekriegt. Es ist der Monat Oktober im nie mehr wiederkehrenden Jahr 1111. Königin Urraca wird gehetzt von Alfonso el Batallador. Alfons der Schlachtenkämpfer. Elster und Schlachtenkämpfer, irgend jemand wird irgendwann ein Buch über sie schreiben.
    »The whereabouts of Urraca at this point is an almost insoluble puzzle«, eines, das Elik Oranje gern lösen würde. In den Bergen Galiciens, so lautete eine Theorie. Aber was hatte man sich darunter vorzustellen?
    »Du darfst dir vorläufig gar nichts vorstellen«, hatte ihr Doktorvater gesagt, als sie diese Art von Problemen besprachen. »Du mußt die Quellen zu Rate ziehen, und du mußt Quellen finden, die noch keiner gefunden hat. In Spanien wimmelt es nur so vor Archiven. Und wenn es Lücken gibt, dann mußt du sie einfach als Lücken erwähnen. Der Rest ist Fiktion.« Aber darum ging es ja gerade.
    »Ich kann doch nichts dafür, wenn ich dabei etwas sehe ?«
    »Das scheint mir ein wenig wissenschaftlicher Ansatz zu sein. Was du siehst, ist ein Produkt deiner Phantasie. Briefe, Urkunden, Bullen, Protokolle sind keine Phantasieprodukte. Du schreibst doch schließlich keinen Roman, oder? Historische Romane sind die lächerlichste Literaturgattung überhaupt. Du versuchst, hinter die Wahrheit zu kommen, hinter die Fakten, die Realität, so schwer das auch ist. Wenn du dabei Ritter, Pagen und Schwerter vor dir siehst – wunderbar, solange sie nicht mit dir durchbrennen. So schätze ich dich im übrigen auch gar nicht ein, besonders romantisch scheinst du mir nicht

Weitere Kostenlose Bücher