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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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zu sein. Und falls du doch mal in die Versuchung gerätst, dann mußt du einfach daran denken, wie sie damals gestunken haben.«
    Nein, besonders romantisch war sie nicht. Wie kam es dann aber, daß dieses Bild von Urraca mit einer kleinen Schar Getreuer in den Bergen so stark war? Identifizierung mit der Frau, mit der man sich gerade beschäftigte, einerseits, und andererseits das Fehlen von Fakten, das ließ der Phantasie unerlaubt viel Spielraum. Eines der schwierigsten Dinge war der Faktor Zeit, wodurch jede Partei stets im ungewissen über die Bewegungen der anderen war, was wiederum zur Folge hatte, daß Dokumente so oft unzuverlässig waren. Die höchste Geschwindigkeit war die des Pferdes, und sie bestimmte, in welchem Augenblick man erfuhr, wann das eigene Heer eine Stadt eingenommen hatte oder geschlagen worden war.
    »Ah«, sagte ihr Doktorvater, »vergiß nie, was Marc Bloch gesagt hat: Ein historisches Phänomen läßt sich außerhalb des Zeitpunkts, zu dem es sich ereignet hat, auf keinerlei Weise verstehen.«
    Das war wunderbar und zugleich paradox, wenn man sich dabei nichts vorstellen durfte. Am besten hielt sie sich an die Landkarten und versuchte, die Hauptfiguren bei ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Bewegungen zu verfolgen – den König, der Palencia eingenommen hatte und sich jetzt auf dem Weg nach León befand, den Bischof, der seine Schlacht verloren hatte und nun Verwundete und Versprengte in Astorga einsammelte, um dann nach Santiago zurückzureiten, die Königin irgendwo, aber wo … Und dann gab es noch die restlichen Schachfiguren, den Sohn, den sie von einem anderen hatte und der jetzt ebenfalls in Santiago zum König gekrönt worden war. Solange sie den bei sich hatte … Und nun stand da auf einmal dieser Mann vor ihr, den sie eine Sekunde lang nicht wiedererkannte, und der etwas gesagt hat, aber was? Jetzt sah sie, wie intensiv blau seine Augen waren, und wußte, daß sie nicht auf seine Frage – hinaus, Pfaueninsel, was war das um Himmels willen – eingehen wollte, und registrierte, wie sie die Landkarten zusammenfaltete, die Historia compostelana zuschlug, ihre Königin in den Bergen Galiciens oder wo auch immer zurückließ und dieser langen, wiegenden Gestalt ins Freie folgte, wo die Wintersonne auf das auf und ab schwingende Gebäude der Philharmonie prallte.
    *
    Elik Oranje war die erste Frau, die Arthur Daane je zu Arno Tieck mitgenommen hatte, und das war um so merkwürdiger, dachte Arno, weil die beiden sich ganz offenbar noch nicht lange kannten. Er ließ sich ihren seltsamen niederländischen Namen auf der Zunge zergehen, ließ sich versichern, daß er nichts mit der königlichen Familie der Niederlande zu tun hatte, und beteiligte sich dann an dem gemeinsamen Schweigen, bis es ihm zuviel wurde. Schweigen tat er schon den ganzen Tag zwischen den vier Wänden mit seinen Büchern, doch das war nicht durchzuhalten, wenn einem menschliche Wesen gegenübersaßen.
    Was er sah, war ein verlegener Arthur, der eigentlich schon wieder wegwollte, vielleicht aber auch auf ein Urteil über diejenige, die er mitgebracht hatte, zu warten schien, selbst wenn es jetzt nicht ausgesprochen würde. Nur, solange die nichts sagte, war das schwierig, und es sah vorläufig nicht danach aus, daß dieses Schweigen gebrochen würde, dafür war das Gesicht zu verschlossen, zu obstinat.
    Was er nicht wissen konnte, war, daß Elik in diesem Moment mit ihrer eigenen Inventarisierung beschäftigt war. Nun, da sie jemanden vor sich hatte, den sie nicht kannte, konnte sie zumindest fürs erste damit tun, was sie wollte, und sie machte aus dem Mann ihr gegenüber mit den so wild funkelnden Brillengläsern und diesem Nimbus aus nach allen Seiten hin abstehendem Haar einen furchterregenden Zauberer, einen obskurantistischen Gelehrten, und als spürte er das und wollte auf der Stelle ein Teil ihrer Phantasie werden, entlud Arno Tieck sich in einer Tirade über die Symbolik der Farbe Orange.
    Es gab, so wußte Arthur, nichts Obskurantistisches oder Okkultes an seinem Freund, doch wer sich in den Bann seiner rhetorischen Gaben ziehen ließ, hatte es immer schwer, ihn nicht mit seinem Thema gleichzusetzen. Seine Sprechweise war emphatisch, der korpulente Körper bewegte sich entsprechend seiner Argumentation mit, die Hände wedelten durch den Raum, um die Trugbilder, die seine Darlegungen beeinträchtigen könnten, zu verjagen, noch bevor die anderen sie gesehen hatten. Ob er nun über Hitlers

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