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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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hatte? Apropos Wirklichkeit! Das einzige Porträt, das sie von ihr kannte, sagte nichts aus, es war in einem spanischen Buch über ihren Freund und Feind Gelmirez, den Bischof von Santiago, zu finden, und darauf glich sie einer Königin aus einem Kartenspiel, mit einer Art rechtwinklig gefalteter Banderole in der Rechten, auf der ihr Name stand, mit einem r und mit k, Uraka Regina. Thron, Krone, Zepter, die Füße in rosa Pantoffeln weit auseinandergestellt auf ein paar ineinander verschlungenen mozarabischen Bögen, der Umhang wie ein Himmel mit dicken Sternen, die Krone wie ein komisches, schiefes Döschen auf dem Kopf, der Kopf selbst stereotyp, nicht das Gesicht von jemandem, der irgendwann wirklich gelebt hat, der gesprochen, gelacht, gekämpft und gevögelt hat. Wie um Himmels willen kam man mit einem solchen Leben in Berührung? Und umgekehrt, wie hätte sie ihr eigenes anachronistisches Leben erklären sollen? Berlin, das damals noch nicht einmal existierte. Und dennoch, jemandem, der gewöhnt war, mit Macht umzugehen, konnte man, solange man in einem mittelalterlichen Kontext blieb und die Ideologien beiseite ließ, die reine Machtgeschichte noch erzählen, der Kaiser, sein verlorener Krieg, der Volksaufstand, die Forderungen der Sieger, der Volkstribun, der nächste Krieg … nur, danach wurde es schwieriger. Oder nicht? Pogrome, Islam, das ging ja noch, sogar die Atombombe konnte man in gewisser Weise noch als eine alleszerstörende Waffe erklären … aber eine Welt ohne Religion, das war für einen Menschen des Mittelalters natürlich undenkbar, es sei denn, man sprach von der Hölle. Aber wenn solche Abgründe zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit lagen, wie konnte dann jemals die Rede davon sein, die Wirklichkeit der Vergangenheit verstehen und beschreiben zu können? Wirkliche Wirklichkeit, was für ein Unsinn. Besser, sie schliefe jetzt. Nicht weiter Fäden spinnen, schlafen. Vom Innenhof unten drang Lärm herauf, sie erkannte die Schritte des Freundes, der sie hier fast für umsonst wohnen ließ. Er arbeitete in einer Bar, anfangs war er mal betrunken an ihrem Bett erschienen, doch nach der Geringschätzung, mit der sie ihn am nächsten Tag behandelt hatte, war das nicht wieder vorgekommen. Erst als sie das Licht löschte, dachte sie wieder an den eigenartigen Niederländer, den sie an diesem Tag kennengelernt hatte. Filmer, hatte er gesagt, Dokumentarfilmer.
    Es gibt viele Wege, wie man ins Reich des Schlafs gelangt, mal mit Hilfe von Bildern, mal von Worten, Verschiebungen, Wiederholungen. Dokumentarfilme, Dokumente. Jemand kommt so leise wie möglich die Treppe herauf. Wenig Verkehr heute nacht. Stille. Stadt auf einer weiten Ebene, die sich nach Osten ausdehnt und ausdehnt und ausdehnt, in eine ach so dunkle Dunkelheit hinein …
    *
    Tauwetter, schmelzender Schnee, und dann, mit einemmal, ein Morgen mit einem Licht, das etwas vom Abschied des Winters behauptet. Es hat auf dem Breitengrad, auf dem Berlin liegt, und zu dieser Jahreszeit nur wenige Stunden zur Verfügung, niemand weiß das besser als ein Filmer. Arthur Daane hat die große Karte der Stadt auf dem Fußboden ausgebreitet, die Karte der schizophrenen Stadt, aber das macht nichts, soviel hat sich nicht verändert, man muß sich lediglich die dicke rosa Linie mit ihren willkürlichen Ecken wegdenken, die angab, wo das Reich der anderen begann. Von dieser Stadt aus war die Welt angebrüllt worden, und die Welt hatte die Stadt gestraft und versucht, sie wieder im Erdboden verschwinden zu lassen, hier hatte ein Volk sich selbst aufgezehrt, doch die Überlebenden waren aus den Ruinen und Kellern hervorgekrochen unter neuen Herren, die ihre Sprache nicht sprachen, danach war ihre Welt in zwei Teile zerbrochen und der schwächere Teil aus der Luft am Leben erhalten worden, und unter all diesem menschlichen Treiben, in einem Wellenschlag von Gut und Böse, von Schuld und Sühne, hatte die Stadt ihre eigenartige, geschundene, gestrafte, gedemütigte Seele wiedergefunden, wodurch die beiden kurzen Silben ihres Namens alle Verbrechen, allen Widerstand und alles Leiden ausdrückten, das in ihr stattgefunden hatte, ebenso wie in dieser einen dumpfen und der anderen hellen Silbe alle Stimmen mitsummten, die je in ihr erklungen waren. Aber das brauchte man nicht zu denken, das tat die Stadt schon selbst mit ihren Denkmälern, ihren Vierteln, ihren Namen, und auch er sollte jetzt nicht länger auf diese Karte schauen, sondern sie im Gegenteil

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