Allerseelen
der Havel floß noch wie damals in den Jungfernsee, doch die grauen Boote der Grenzpolizei gab es nicht mehr. Der Verkehr nach Potsdam flog vorbei, als wäre er nie gestoppt worden. Er suchte nach Worten. »Ich habe hier einen Film gemacht mit …« und er nannte den Namen eines niederländischen Autors, »der Mann stand dort, und wir haben ihn bestimmt zehnmal hin und her gehen lassen vom Osten zum Westen und vom Westen zum Osten. Er erzählte von den Grenzkontrollen, vom Agentenaustausch, was allein schon das Wort Glienicker Brücke für manche bedeutete … und er machte das ganz gut, aber …«
»Es war nicht mehr die Vergangenheit?«
»Vielleicht war es das … es hat was … was Verlogenes, wenn etwas wirklich passiert ist und dann zu einer Geschichte wird, die sich jemand aneignet. Da fehlt alles.«
»Aber nur, weil du es selbst erlebt hast.«
»Aber das würde ja bedeuten, daß die Dinge, je weiter entfernt sie sind, um so weniger stimmen.«
»Das weiß ich nicht … aber man kann doch die Vergangenheit nicht als Vergangenheit festhalten. Das machst du in deinem eigenen Leben auch nicht, das wäre ja nicht auszuhalten. Stell dir vor, deine Erinnerungen müßten genauso lange dauern wie die Ereignisse selbst? Du hättest keine Zeit mehr zum Leben, und das kann doch wohl nicht der Sinn der Sache sein, oder? Wenn die Vergangenheit sich nicht abnutzen darf, dann geht es nicht weiter. Das gilt für dein eigenes Leben, aber genauso für Länder.« Sie lachte. »Außerdem gibt es dafür Historiker. Die verbringen ihr eigenes Leben mit dem Gedächtnis anderer.«
»Und die Lüge nimmst du mit in Kauf?«
»Was für eine Lüge? Was du, glaube ich, meinst, ist, daß du es nicht erträgst, daß die Vergangenheit ihre Gültigkeit verliert. Aber so kann man nicht leben. Allzuviel Vergangenheit ist stinklangweilig. Hör auf meine Worte.«
Sie hatte sichtlich kein Interesse mehr an dem Thema und zündete sich eine Zigarette an.
»Wie kommen wir zur Pfaueninsel?«
Bevor er antworten konnte, drehte sie sich abrupt zu ihm um und sagte: »Dieser Film, den du hier gedreht hast, ist es das, was du eigentlich machst?«
Wie sollte man das nun wieder ausdrücken. »Das mach ich für Geld« klang zu banal, und außerdem stimmte es nicht. Er liebte das, was er das Öffentliche seiner Arbeit nannte, gleichgültig ob er nun selbst filmte oder es im Auftrag eines anderen, als Kameramann, tat. Aufträge konnten sehr lehrreich sein. Was er für sich selbst machte, war etwas anderes. Aber es war noch zu früh, um das zu erläutern.
Sie fuhren zurück bis zur Ausfahrt Nikolskoe. Unter den hohen, kahlen Bäumen lagen noch Schneereste, grauweiße Placken zwischen dunklen, feuchten Blättern. An der Fähre stellte er das Auto ab. Eigentlich war es ein Wunder, daß sie noch verkehrte, bis auf ein altes Ehepaar waren sie die einzigen Passagiere. Er dachte, daß auch sie für die anderen wie ein Paar aussehen mußten. Was hatte sie gesagt? Es geht nicht weiter, wenn die Vergangenheit sich nicht abnutzen darf. Inwiefern hatten sich Roelfje und Thomas abgenutzt? Allein schon der Klang dieses Worts hatte etwas Garstiges, abgenutzt, das sagte man von Dingen. Er hatte immer das Gefühl gehabt, daß sie sich langsam immer weiter von ihm entfernten und, sobald sie es wollten, sofort wieder bei ihm sein konnten. Doch wozu?
Der Motor des kleinen Boots begann heftiger zu dröhnen. Sie legte ihre Hand auf sein Bein, aber so, daß es aussah, als merke sie es selbst nicht. Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten, und dennoch war es eine richtige Reise. Abfahrt, Ankunft, die Bahn über das leuchtende Wasser dazwischen, die glänzende, sanft schaukelnde Fläche, die das grelle Licht der Wintersonne zurückwarf, das Geheimnisvolle, das zu Inseln gehörte, mochten sie auch noch so klein sein.
In dem Augenblick, in dem sie an Land gingen, hörten sie den hohen, lauten, langgedehnten Schrei eines Pfaus. Sie blieben stehen, um zu hören, ob er noch einmal schreien würde, doch die Antwort kam von viel weiter weg.
»Als riefen sie nach etwas, das sie nie bekommen können.« Sagte sie.
Und noch so ein Schrei, und noch einer.
Plötzlich rannte sie los. Mit der Kamera käme er unmöglich nach. Das war auch nicht der Sinn der Sache. »Bis nachher«, rief sie.
Er sah sie davonrennen, und ihm wurde bewußt, wie schnell sie lief. Binnen weniger Minuten, vielleicht noch nicht einmal das, war sie verschwunden. Er war mit niemandem auf die Insel gekommen, er
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