Allerseelen
war wieder der, der er immer war. Auch das alte Ehepaar war verschwunden. Der Fährmann hatte gerufen, daß um vier Uhr die letzte Überfahrt war, also hatte er noch zwei Stunden.
Geraschel in den Sträuchern, ein paar Meter vor ihm trat plötzlich ein Pfau auf den Weg und blieb da stehen. Ein zweiter folgte, ein dritter. Er blickte auf ihre eigenartigen ledernen Füße mit den unangenehmen Zehen, die so kraß gegen die verschwenderische Pracht darüber abstachen. An Pfauen stimmte nichts, der boshafte kleine Kopf mit den stechenden Augen und den zwei oder drei idiotischen senkrecht in die Höhe stehenden Stengeln obendrauf, die dicke Schicht schwarzweißer Federn, die wie ein Deckbett auf dem blaugrünen Leib lag, der lange Schwanz mit den Augen, der, wenn er nicht breit aufgefächert in die Höhe stand, wie ein schlaffer Besen hinter dem Tier herschleifte, die komische Pickbewegung zwischen den braunen Blättern.
Mit einem plötzlichen Schrei sprang er vor, so daß die drei Tiere den Weg entlangstoben. Er hatte vorgehabt, ihr den kleinen dorischen Tempel zu zeigen, der zum Gedenken an Königin Luise, die mit den sahnefarbenen Brüsten, erbaut worden war, ein Hauch von archaischem Griechenland, verirrt in den um soviel kühleren Norden, einer jener Heimwehbauten, mit denen deutsche Fürsten im vorigen Jahrhundert ihren Status als Neu-Athener unter Beweis hatten stellen wollen. Aber sie war nicht da, sie rannte irgendwo wie ein besessenes Kind so schnell und so weit wie möglich von ihm fort, einem Mann, der nicht einmal auf die Frage hatte antworten können, was er denn eigentlich machte. Eigentlich, das war es. Was machte er eigentlich. Was war Eigenes an dem, was er machte? Was hätte er gesagt, wenn sie nicht weggerannt wäre? Daß er die Welt in eine öffentliche Welt aufteilte, die meist mit Menschen zu tun hatte und dem, was sie taten, oder, besser gesagt, was sie einander antaten, und eine andere, in der die Welt, wie er es nannte, sich selbst gehörte. Nicht, daß in dieser zweiten Welt keine Menschen vorkamen, aber wenn, dann als Menschen ohne Namen und ohne Stimme. Daher benutzte er in solchen Fällen meist auch nur Teile ihres Körpers, Hände oder, wie an jenem Tag in der U-Bahn, Füße, anonyme Menschenmengen, Leute, Masse. An dieser zweiten Welt hatte kein einziger Auftraggeber je Interesse bekundet, und das zu Recht, es war etwas Ureigenes, und bis es je eine Form haben würde, mußte er es für sich behalten. »Notate«, hatte Arno gesagt, und dieses Wort hatte ihm gefallen. Damit war er eine Art von Notar geworden, ein Buchhalter, der irgendwann oder nie das Ergebnis seiner ewigen Rechnerei auf den Tisch legen würde. Ob diese erste Welt, die der Aufträge, einen Platz darin haben würde, war ihm noch nicht klar. Weil er stets einsatzbereit war, schickte man ihn überallhin, und er ließ sich schicken, ob es nun für die VARA war oder für Amnesty oder NOVIB, neben dem Auftrag konnte er immer für sich selbst filmen.
»Katastrophenfachmann erster Klasse mit Schwertern«, hatte Erna gesagt, »allgemeiner Leichenbitter, Todesexperte im allgemeinen Dienst, wann machst du mal wieder einen richtigen Film?«
»Ich will gar keinen richtigen Film machen. Und was ich machen will, das wollen sie nicht.«
»Arthur, manchmal fürchte ich, deine Sammlung ist nur ein Alibi. Du bezahlst deine zweite Welt, wie du es nennst, mit deiner ersten. Die erste kennen wir, die sehen wir abends, die tägliche Portion Elend, aber die zweite, die zweite …«
»Das ist die Welt der Dinge, die es immer gibt und die offensichtlich nicht der Mühe wert ist, gefilmt zu werden, die nur als Hintergrund gezeigt wird, das, was dasein muß, worauf aber keiner achtet.«
»Das Überflüssige?«
»Wenn du willst. Das Rauschen. Das, womit kein Mensch sich befaßt.«
»Also alles. Hilfe.« Und dann: »Hör nicht auf mich. Ich versteh dich schon oder zumindest ein Stück weit, aber ich habe solche Angst, daß es nirgends hinführt. Einerseits siehst du immer nur diese grauenhaften Dinge, du weißt ja gar nicht, wie du aussiehst, wenn du von so einer Reise zurückkommst. Und du hast selber gesagt, daß du manchmal Alpträume hast … Und … du hast erst nach dem Unglück damit angefangen.«
»Nach dem Tod von Roelfje und Thomas. Du hast mir doch selbst beigebracht, daß ich ihre Namen aussprechen muß. Aber du sagtest, einerseits … wie ging das dann weiter?«
»Und andererseits … du hast mir nie viel davon gezeigt.«
»Und
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