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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Lübars gewesen?«
    »Nein.«
    Irgendeine Bemerkung von ihr in dem Gespräch mit Arno hatte ihn auf diese Idee gebracht. Er hatte zwar nicht richtig zugehört, aber es war um Geschichtsschreibung als Ironie gegangen. Sie hatte das offenbar nicht gelten lassen wollen. Männergehabe, irgend so etwas hatte sie gesagt. Er war sich nicht ganz sicher und würde sie auch nicht danach fragen. Was er ihr zeigen wollte, war eines der Dinge, von denen es in Berlin so viele gab, vielleicht konnte man das auch als Ironie bezeichnen. Jedenfalls hatte es voll und ganz mit Geschichte zu tun. Victor konnte das besser ausdrücken, aber er, Arthur, war nun mal nicht Victor. Bei dem wußte man im übrigen oft nicht, ob er etwas ironisch meinte oder nicht. Dafür hatte man schließlich seine Freunde, solche wie Victor oder Arno oder Zenobia. Die würde sie vielleicht langweilig finden. Obwohl, die Begegnung mit Arno war ein Erfolg gewesen, zumindest was Arno betraf. Wenn er sich’s recht überlegte, dann hatten die beiden ihn in Windeseile abgehängt. Wort-Menschen schienen immer schneller zu sein.
    »Wo ist das?«
    »Im Norden von Berlin, ein kleines Dorf. Zur Zeit der Mauer war es das einzige Dorf, das zum Westen gehörte, wodurch man den Eindruck hatte, daß die Stadt doch in einem Land lag.«
    Sie fuhren die Avus entlang, brausten beim Funkturm auf die Autobahn Richtung Hamburg, Waidmannsluster Damm, warfen die Stadt über die Schulter. Plötzlich war alles ländlich, ein Mädchen auf einem Pferd, Kopfsteinpflaster, ein Bauernhof, ein alter Dorfkrug, Gräber rund um eine kleine Kirche. Mit einer Stadt hatte das keine Ähnlichkeit mehr. Hier war er immer hingefahren, wenn er sich eingesperrt gefühlt hatte. »Dort«, zeigte er ihr, »war ein Biergarten, da saß man unter den Linden und schaute auf die Wiesen. Und da, am Ende, war die Mauer.« Wie üblich konnte er nicht sagen, warum ihn das so bewegt hatte. Konnte man das mit einem Land machen? Ein Riß, eine Wunde, es war, als beleidige man die Erde selbst. Doch Erde wußte von nichts, genausowenig wie die Vögel, die unbekümmert hin und her flogen, ohne irgend jemanden etwas zu fragen.
    Sie gingen durch das Dorf, dann eine Landstraße entlang, die sie nach kurzer Zeit ebenfalls wieder verließen, um einem Feldweg zu folgen, der durch den Schnee der vergangenen Woche matschig geworden war. Es schien ihr nichts auszumachen, sie ging schweigend neben ihm her. Sie kamen zu einem schmalen, gewundenen Flüßchen, das dunkle Wasser bewegte sich, tote Blätter trieben darauf. Er war noch immer da. »Siehst du den Pfahl da?«
    Mitten im Flüßchen, ein ganz alltäglicher Holzpfahl, niemand würde ihm etwas Besonderes ansehen.
    »Ja, und?«
    »Daran war ein Schild genagelt, auf dem stand, daß sich dort die Zonengrenze befand, mitten im Bach.«
    »Und die Mauer?«
    »Die lag weiter hinten. Das hier war die wirkliche Grenze.«
    Vielleicht hatte er zuviel daraus gemacht, doch es war ihm absurd erschienen, daß sich dort, mitten in diesem läppischen Wasser, die Grenze zwischen zwei Welten befunden hatte. Absurd, und dennoch hatte es eine Logik gegeben, die das vorschrieb, eine Logik, zu der dieser kleine Pfahl gehört hatte. Eine tödliche Logik obendrein, man konnte an ihr sterben. Das sagte er, oder zumindest etwas in dieser Richtung.
    »Versuch’s doch von der komischen Seite zu sehen.« Er verstand sie nicht.
    »Wieso?«
    »Als eine Geschichte, die sich jemand ausgedacht hat. Ein Land fängt einen Krieg an, weil es einen früheren Krieg verloren hat, und den verliert es jetzt auch wieder. Du kennst doch diese ganzen Chaplinfilme, in denen er immer das Entgegengesetzte dessen erreicht, was er will. Das hat etwas unvorstellbar Komisches.«
    »Ich verstehe nicht. Und was ist mit den Menschen, die davon betroffen waren? War das auch komisch?«
    Sie blieb stehen. Etwas Lauerndes und Bohrendes lag in ihren Augen. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
    »Hilft es dir weiter, wenn du das als tragisch bezeichnest? Ich bin durchaus bereit, es so zu nennen. Natürlich, tragisch. Aber ist das Absurde nun tragisch oder komisch? In zweihundert Jahren, wenn die Gefühle verschwunden sind, bleibt nur die Idiotie übrig, die Ansprüche, die Argumente, die Rechtfertigungen.«
    Sie wandten sich jetzt vom Bach ab und gingen an einem umgepflügten Feld entlang. Es war schon fast dunkel.
    »Hier war deine komische Mauer. Ein Eisenzaun, der Todesstreifen …«
    »Was war das?«
    »Dort drüben, wo

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